Sonntag, 21. Juli 2013

„Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften.“ - Antoine de Saint-Exupéry

Seit Tagen fühle ich mich, als würde ich neben mir stehen. Als ich am Donnerstag wieder arbeiten gehe, ist es, als säße ich im Kino und sähe mir selbst als Hauptdarstellerin beim Handeln zu. Als andere Leute mich ansprechen, antworte ich wie automatisch auf Spanisch, ohne groß darüber nachzudenken, was ich sage. Meine Beine tragen mich von A nach B, ohne dass ich sie wirklich dabei beeinflussen kann. Zufällig lande ich in einem Krankenzimmer, in dem gerade eine kleine Operation am Bauch einer Patientin durchgeführt wird. Leider habe ich keine Ahnung, worum es geht, da ich mittendrin reinplatze, aber ein Assistenzarzt winkt mich heran, damit ich auch zusehe. Die Patientin hat zwei Schnitte im Unterbauch, durch die ein Plastikschlauch geführt wird, durch den kontinuierlich eine transparent gelbliche Flüssigkeit austritt. In der Wunde unterhalb des Bauchnabels wird mit OP-Scheren rumgewerkelt und geschnippelt. Es ist das erste Mal, dass ich live bei einer Operation dabei bin, und obwohl es eine kleine Sache zu sein scheint, wird mir auf einmal ganz schwindlig. Dabei finde ich es wahnsinnig interessant! Als mir zunehmend schwarz vor Augen wird, verlasse ich kurz den Raum, um das Desinfektionszeug für die Fieberthermometer wegzubringen. Ich atme ein paar mal tief ein und aus und schiebe meine Unpässlichkeit auf die Tatsache, dass ich bis vor Kurzem ja selbst noch eine erhöhte Körpertemperatur hatte, und laufe dann zurück in das Zimmer. Ich sehe dabei zu, wie der Plastikschlauch wieder entfernt und die Wunden genäht werden und werde sogar dazu aufgefordert, mit Tape Kompressen auf dem Bauch der Patientin zu befestigen. Trotzdem fühle ich mich auf einmal wahnsinnig verunsichert. Kann ich wirklich Medizin studieren, wenn mir schon bei solchen Kleinigkeiten ganz anders wird?

Nach dieser doch ganz neuen Erfahrung putze ich nur noch Tische und drehe Wattebällchen, weil ich nun noch mehr neben mir stehe als zuvor ohnehin schon. Ich fühle mich, als würde ich ein unendliches Déjà vu durchlaufen, das bis heute nicht aufgehört hat. Ständig gerate ich in Situationen, in denen ich mir sicher bin, sie ganz genauso vor einer ewig langen Zeit schon einmal erlebt zu haben, obwohl ich mich nur noch an Bruchteile erinnere. Dazu erlebe ich komische Zufälle - so hängt am Blumengesteck einer meiner Lieblingspatientinnen ein Kärtchen mit der Aufschrift: "Si se cierra una puerta se abre otra para usted" - "Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich für dich eine neue". Genau das, was ich unmittelbar nach meinem Abflug aus Hannover gedacht habe. 
Ich gehe am Donnerstag früh nach Hause, weil ich hoffe, mich ein wenig erholen zu können, wieder normal zu werden. Ich koche mir einen Oreganotee, weshalb ich spätnachmittags schon wieder Appetit auf Pizza bekomme. Diesmal hat die Pizzeria aber geschlossen, daher setze ich mich in einem Grillimbiss zu drei Ecuadorianerinnen an den Tisch und bestelle einen Fleischspieß. Wir plaudern ein bisschen und tauschen dann Nummern aus. Auf einmal fühle ich mich, als würde ich schon seit einer halben Ewigkeit hier wohnen und doch bin ich noch so fremd. In meiner Einsamkeit werde ich ein wenig melancholisch und doch weiß ich, dass das zwangsläufig der erste Schritt in eine neue, unbekannte Welt ist. 
Plötzlich verstehe ich, wie sich Immigranten mit einer anderen Muttersprache in Deutschland fühlen müssen. Immigranten, über die sich viele Deutsche so unglaublich aufregen, weil sie angeblich nicht versuchen, Deutsch zu lernen und sich zu integrieren. Aber würden wir das denn tun, wenn unser Arbeitgeber uns auf einmal in ein fremdes Land versetzt? Ein Land, dessen Sprache wir kaum oder gar nicht sprechen? Ein Land mit ganz anderen kulturellen Gegebenheiten, als wir sie von zu Hause kennen? Was würden wir tun?
Allein diese Vorstellung macht es vielleicht ein bisschen einfacher zu verstehen, warum sich viele Immigranten in Gruppen ihresgleichen aufhalten und geradezu krampfhaft versuchen, ihre Traditionen fortzuleben, sodass sie häufig einen konservativeren Lebensstil pflegen, als sie es in ihrer Heimat tun würden. Als Immigrant wird man immer einer Minderheit angehören, man wird immer der Fremde bleiben, egal, wie sehr man versucht, sich zu integrieren. Es muss wahnsinnig schwer sein, mit dieser Erkenntnis zu leben und andererseits glaube ich, dass es unglaublich bereichernd für die eigene Persoenlichkeit sein kann. Denn man wird zwar niemals wirklich ein Teil der anderen Gesellschaft werden, kommt dieser aber von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr immer näher. Zu versuchen, aus seinen anerzogenen Verhaltens- und Wertemustern auszubrechen, zu versuchen, imaginäre Grenzen zu überschreiten, ermöglicht einem eine ganz neue Sichtweise auf die Welt und die Menschen. Und auch, wenn wir die absolute Wahrheit, sofern eine solche existiert, nie erfahren werden, kommen wir ihr auf diese Weise Stück für Stück näher.
Nachdem ich gestern zusammen mit Lili, die heute nach Hause an die Küste fährt, im Parque La Carolina war, ist mir klar, warum ich so betrübt bin: Ich bereue es, nur für sechs Wochen "allein" in Quito zu sein. Wie bitte will man in sechs Wochen eine andere Kultur kennenlernen, wenn man noch nicht einmal der Sprache richtig mächtig ist? Es verunsichert mich so immens, häufig nur die Hälfte dessen, was man mir sagt, sofern es über den allgemeinen Smalltalk hinausgeht, zu verstehen. Ich möchte wissen, was die Ecuadorianer wirklich sagen und auch bestimmte Zwischentöne heraushören können. Ich möchte nicht immer nur vermuten müssen, was wirklich gemeint ist, sondern verstehen lernen. Ich möchte nicht nur die Reisende sein, die in absehbarer (kurzer!) Zeit wieder nach Hause fährt, ich möchte wissen, wie es ist, einen richtigen Alltag hier zu leben. Ich möchte Freundschaften mit Ecuadorianern knüpfen, möchte wissen, wie sie wirklich denken und fühlen. Warum bin ich also nur für sechs Wochen hier? Habe ich wirklich geglaubt, in solch einer kurzen Zeit auch nur eine grobe Vorstellung davon zu bekommen, wie es hier ist?
Im Grunde lassen sich diese Fragen ganz einfach beantworten. Ich hatte Angst. Angst vor der Fremde. Angst davor, mit den neuen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen. Angst davor, zu vereinsamen. Und sicherlich wäre es auch nicht einfach, lange hier zu leben, das merke ich schon jetzt. Die Menschen hier sind großenteils einfach viel unzuverlässiger. Wenn man sich verabredet, heißt das noch lange nicht, dass man sich auch wirklich trifft. Häufig kommen andere Dinge dazwischen, ständig werden Termine hin- und hergeschoben. Für mich als korrekte, durchgeplante Deutsche ist es super schwierig, mit diesem ungewohnten Maß an Spontanität umzugehen, zumal es in Deutschland ja schon als unhöflich gilt, eine einzige Verabredung ohne gute Begründung mal eben so abzusagen oder zu verschieben. Als unsichere Person fragt man sich ständig, ob der andere persönlich etwas gegen einen hat oder generell keine Lust hat, sich mit einem zu treffen. Dabei ist das hier ganz natürlich. 
Andererseits gestaltet es sich auf diese Weise für mich auch schwierig, innerhalb der gut zwei Wochen (Donnerstag fliege ich ja nach Cali), die mir hier noch bleiben, tiefgründigere Beziehungen zu Ecuadorianern aufzubauen, zumal die meisten nur Spanisch sprechen. Das macht mich momentan wirklich traurig. Ich wünschte, ich könnte meinen Rückflug einfach auf 2014 verschieben und hierbleiben. Ich brauche einfach mehr Zeit, um das zu tun, was ich mir vorgenommen habe: endlich mal richtig in eine fremde Welt einzutauchen.










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