Mittwoch, 28. August 2013

„Niemals geht man so ganz,/ irgendwas von mir bleibt hier./ Es hat seinen Platz -/ immer bei dir.“ - Trude Herr

Nachdem ich an meinem letzten Dienstagabend in Quito fast bis Mitternacht mit den Chilenen auf einem Hippie-Fest mit Lagerfeuer und Cumbia, einem hierzulande typischen Tanz zu selbst improvisierter Musik war, bei dem ich mir eher ein bisschen vorkam wie ein wild hüpfender Rumpelstilzchenverschnitt, war, bin ich Mittwoch bei der Arbeit so ziemlich unbrauchbar. Die Ursache ist jedoch weniger meine Müdigkeit, als die Tatsache, dass heute mein letzter Arbeitstag ist. Ich stehe die ganze Zeit neben mir. Ich kann nicht fassen, wie schnell meine inzwischen sechs Wochen in Quito vergangen sind. Urplötzlich heißt es Abschied nehmen, doch die Menschen,  die ich hier in der Medicina Interna am liebsten gewonnen habe, arbeiten heute Vormittag nicht einmal und meine Lieblingspatientinnen sind entlassen worden. So fällt der Abschied wenig emotional aus - wie jeden Tag sage ich einfach "chau" und gehe, aber diesmal, ohne mich noch einmal umzudrehen, denn das würde mich einfach zu traurig machen. Als ich die Treppe hinunter gehe, frage ich mich, ob ich jemals in dieses Krankenhaus zurückkehren werde und wie sehr es sich dann verändert haben wird. In erster Linie wird wohl das Gebäude das selbe bleiben. Doch die Menschen, die in ihm arbeiten und genesen, kommen und gehen tagein, tagaus. Es wird nicht annähernd so sein, wie es jetzt ist, denke ich. Und diese Erkenntnis macht den Abschied deutlich leichter, als ich ihn mir vorgestellt habe.
Viel schwerer fällt es mir, Quito und all meine neue Freunde hier zurückzulassen. Und vor allem: Aus Quito zu gehen bedeutet auch, Abschied von meiner neu gewonnenen Freiheit und Unabhängigkeit zu nehmen. Denn am Samstag fliegt Marvin hierher, um mich die folgenden sechs Wochen durch Ecuador und Peru zu begleiten. Seine Erwartungen an die Reise und an mich setzen mich schon im Voraus unter Druck, denn ich möchte nicht wieder aufgeben müssen, tun und lassen zu können, wonach mir ist. Entsprechend schlecht geht es mir die nächsten zwei Tage. Als Alex und ich am Donnerstag, seinem letzten Tag in der Gastfamilie, gemeinsam kochen, ist meine Stimmung am Tiefpunkt angelangt. Denn Alex ist einer der neuen Menschen in meinem Leben, die ich besonders gern habe, und gleichzeitig ist er mit mir zusammen der letzte Volunteer, der noch hier wohnt. Heute fließen meine Tränen ganz ohne geschnittene Zwiebeln und auch Alex sieht sehr traurig aus. Der Himmel weint ebenfalls - eine Seltenheit zu dieser Jahreszeit in Quito - und schließlich gewittert es sogar. Doch Unwetter und Tränen haben etwas Heilendes an sich: Zwar bleibt nach den meisten Stürmen Zerstörung, doch eröffnen sich auch Chancen, schon zuvor längst baufällig Gewesenes zu renovieren. Obwohl ich mich morgens noch nicht so gut fühle, beschließe ich also, meine schon fast überfälligen Erledigungen zu machen - ich gehe zur Post und schicke ein 4-Kilo-Paket nach Hause, hole meinen Schlüsselpfand aus der Sprachschule wieder ab und kaufe Busfahrkarten nach Puerto Lopez. Zufällig komme ich noch kurz ins Fernsehen, weil ein Journalist Touristen auf der Plaza Foch über Ecuador interviewen möchte. Dann verabrede ich mich mit Luis und seinen Freunden für heute Abend zum Tanzen, worauf ich mich schon jetzt total freue.
Spätestens ab dem Medizinkurs mit einem kolumbianischen Arzt wird der Rest des Tages zu einem vollen Erfolg. Es macht einfach Spaß, an Hähnchenschenkeln nähen zu üben, und ich freue mich unglaublich darauf, bald sehr viel mehr über Medizin zu lernen. Abends ziehe ich eines meiner schönen Kolumbien-Kleider an und treffe mich mit Luis und seinen Freunden gegen neun in einem Restaurant. Auf dem Weg dorthin höre ich ein paar Feuerwerkskörper explodieren und sehe, wie die Sterne einiger bunter Raketen vom Himmel regnen. Ich beschließe, den letzten Abend meines neuen Lebens in Quito zu einem der schönsten überhaupt zu machen. Luis' Freunde sind mir auf Anhieb sympathisch. Drei von ihnen sind Amerikaner und arbeiten ebenfalls als Volunteers, allerdings nicht in Quito. Nach dem Essen und leckeren Brombeer-Mojitos fahren wir in eine Salsa-Tanzbar in einem anderen Stadtteil. Bis halb eins komme ich gar nicht mehr von der Tanzfläche, weil ich ständig zum Tanzen aufgefordert werde. Viele Latinos scheinen schon zu tanzen, bevor sie laufen können, und so werde ich gekonnt in Fallfiguren geführt und über die Tanzfläche gewirbelt ohne so recht zu wissen, was mit mir geschieht. Ich fühle mich ein bisschen wie Baby in Dirty Dancing, nur eben auf Ecuadorianisch. 
Da nicht alle die ganze Nacht nur Salsa tanzen wollen, fahren wir um eins zurück in die Mariscal, wo wir zusammen Wasserpfeife rauchen und noch mehr Mojito trinken gehen. Obwohl ich schon recht angeheitert bin, führe ich noch ziemlich tiefgründige Gespräche mit Mia (einer der Amerikanerinnen). Nach Hause komme ich erst gegen drei. Ich bin so glücklich und aufgeregt, dass ich fast nicht einschlafen kann...
Auch wenn es wehtut, Quito und all die wunderbaren Menschen, die ich hier kennengelernt habe, hinter mir zu lassen, gehe ich mit sehr vielen glücklichen Erinnerungen im Herzen. Ich habe hier eine ganz besondere Zeit verlebt - es war sicher eine der schönsten meines Lebens. Ein Teil von mir wird daher immer hier bleiben. Denn hier habe ich es zum ersten Mal wirklich geschafft, das Leben zu genießen, ohne es hinterher wieder zu bereuen. Ich habe das erste Mal richtig loslassen können. Ohne groß nach etwas zu suchen, habe ich sehr viel weiter zu mir selbst gefunden und bin vielen inspirierenden, besonderen Menschen über den Weg gelaufen.
Danke an alle, die mir dies ermöglicht haben!

 

Sonntag, 18. August 2013

„Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein.“ - Simone de Beauvoir


Wieder zu Hause in Quito habe ich erstmal Einiges an Schlaf nachzuholen. Und an Verabredungen. Inzwischen läuft das mit dem Kennenlernen von Einheimischen nämlich richtig gut. Eines der verrücktesten Dinge, die ich wohl je getan habe, ist mein "Blind-Date" mit dem Sohn der Frau, die ich bei meiner Ankunft in Quito im Flughafen kennengelernt habe. Leonel hat mich am Tag, an dem ich nach Kolumbien geflogen habe,  unbekannterweise bei WhatsApp angeschrieben, woraufhin wir ein bisschen gechattet und schließlich beschlossen haben, uns zu treffen. Ich hätte mich sicher nicht mit einem fremden Mann getroffen, wenn meine Intuition nicht damit einverstanden gewesen wäre, keine Sorge! ;-)
Ich warte also am Freitag, dem 2. August, um 14 Uhr auf eine Person, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, und von der ich lediglich weiß, dass sie 1,86m groß ist und eine Baseball-Cap trägt, 28 Jahre alt, Ingenieur ist und in Spanien lebt. Na gut, ein kleines bisschen mehr weiß ich schon, aber ein Foto habe ich bisher noch nicht gesehen. Trotzdem verstehen Leonel und ich uns auf Anhieb gut. Wir gehen zusammen Crêpes essen und ich freue mich, zur Abwechslung mal wieder mit jemandem zu sprechen, der sowohl Europa als auch Südamerika so ziemlich vorurteilfrei begegnet. Es ist auch interessant (und wohl beruhigend für alle besorgten Verwandten und Freunde zu Hause ;-) ) zu hören, wie sehr sich Ecuador - insbesondere Quito - innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte verändert hat. Vor nicht allzu langer Zeit konnte man nämlich nicht so sicher durch das Centro Histórico spazieren, wie wir es gerade tun. Natürlich gibt es auch heute noch Diebe (ladrones) und Co., allerdings ist es wohl kaum schlimmer als in anderen Großstädten auf dieser Welt. So gesehen sind viele Gerüchte, die in Deutschland bezüglich der Kriminalität in Südamerika verbreitet werden, wohl Geschichte. Ich denke, der Nachmittag mit Leonel könnte der Anfang einer guten, langjährigen Freundschaft sein. Zumindest habe ich jetzt wieder mal einen Anlass nach Madrid zu fahren. :-)

Aber es kommt noch besser dieses Wochenende! Am Samstag bin ich nämlich wieder zum Krebse Essen und zur Abschiedsfeier bei der Familia Machado eingeladen. Ich habe das Gefühl, inzwischen so gut wie die ganze Familie zu kennen, wobei die bestimmt über dreißig Verwandten, die ich bisher getroffen habe, wohl nur ein Bruchteil sind. Kein Wunder - allein Frau Pahl hat fünf Brüder und eine Schwester! Nach dem gemeinsamen Kochen und Essen - und diesmal viel weniger Flecken auf der Kleidung als nach dem ersten Mal - gehen Michaela und ich mit der Schwägerin von Frau Pahl, ihrer Tochter und ihren Enkelkindern Schlittschuhlaufen. Ja, ihr habt euch nicht verlesen! Es gibt tatsächlich  einen kleinen "Eis-Palast" (so nennt er sich zumindest in Spanisch) in einer Mall, an der ich tagtäglich mit meinem Paquisha-Bus vorbeigurke. So kommt es also, dass ich der zehnjährigen Valentina, die so niedlich ist, dass ich sie am liebsten selbst zur Schwester hätte, in Ecuador Schlittschuhlaufen beibringe und einen knuffigen neuen "novio" finde - den zweijährigen Juan Sebastián, der sogar schon seine eigene Facebook-Seite hat (s. Fotos).
Als wir abends wieder nach Hause zur Familia Machado kommen, ist die Stimmung ausgelassen. Die ganze Familie singt und tanzt und steckt mich mit der Feierlaune schnell an. Alle Möbelstücke werden so weit wie möglich beiseite geschoben und die ecuadorianischen Schlager laut aufgedreht. Frau Pahls Brüder bringen mir die typischen Tänze bei und alle sind begeistert davon, wie schnell ich das alles lerne. Zu fortgeschrittener Stunde werden patriotische Gedichte über Quito und Ecuador aufgesagt, wobei "aufsagen" definitiv nicht die Art und Weise ausdrücken kann, in der Frau Pahl und ihre Brüder die Poesie vortragen. Vielmehr könnten alle direkt beim Theater anfangen, so mitreißend und inbrünstig sprechen und gestikulieren sie. Ich bin zutiefst beeindruckt und unwahrscheinlich froh, in dieser Familie gelandet zu sein. Auch wenn es im Grunde ganz anders ist, als bei mir zu Hause, glaube ich, dass ich mich auf Dauer durchaus sehr wohl fühlen würde hier. Ich wünschte, ich könnte noch länger als eine Woche in Quito bleiben, da ich unwahrscheinlich gerne noch einmal wieder kommen würde. Oder öfter. Jedenfalls werde ich von allen herzlich dazu eingeladen und fühle mich so ähnlich wie in Bezug auf Anas Familie: Auch, wenn ich diese Menschen kaum kenne, weiß ich, dass sie wie meine ecuadorianische Familie für mich sind. In diesem Sinne ¡GRACIAS POR TODO!

Am Sonntagmorgen wache ich nach der langen Feier entsprechend verkatert auf und würde am liebsten den ganzen Tag lang im Bett liegen bleiben. Da es Alex ähnlich geht, beschließen wir den Tag geruhsam anzugehen und laufen mit Sebastián und Emilio zum Casa de la Cultura, um ins Landeskundemuseum zu gehen. Im Grunde interessiert mich das alles sehr, aber ich bin so müde, dass ich nicht viel mehr von den Infotafeln mitnehme, als dass da weiße Schrift auf blauem Grund steht. Dafür gefallen mir die Knete-Modelle von indigenen Dörfern in verschiedenen Regionen und Epochen. Wie immer, wenn ich müde bin, bekomme ich bald einen Bärenhunger. Da die Brüder und Alex Lust auf Fastfood haben, gehen wir zu KFC und nehmen uns unser Essen mit in den benachbarten Parque El Ejido, indem es von Artisten und Künstlern nur so wimmelt. An den Wegen stellen Maler ihre Bilder aus, es gibt einen kleinen Markt mit Hängematten, Gringo- und traditioneller Kleidung und Jongleure. Aus irgendwelchen Gründen fesselt mich einer von letzteren besonders und auch sein Blick scheint häufiger mal an mir hängen zu bleiben. Ich weiß nicht genau, wie es passiert, jedenfalls tragen mich meine Beine irgendwann einfach zu ihm hin. Wir begrüßen uns und er fragt mich, aus welchem Land ich komme. Dann versucht er auf deutsch "Wie geht's?" zu sagen, was ich leider erst im dritten Anlauf verstehe. Wir reden ein bisschen und ich finde heraus, dass er aus Chile kommt und ein Jahr lang mit dem Rucksack rumreist. Wenig später lerne ich auch Mauricios Freunde kennen, die alle irgendwie wie Hippies aussehen, aber mich wie magisch anziehen. Sie reisen alle komplett ohne Geld, schlafen kostenlos bei Leuten, die sie bei Couchsurfing kennenlernen, und verdienen ihre Fahrkarten und ihr Essen mit Musik, selbstgeknüpften Armbändern, Artistik, etc. Bis die Sonne untergeht und es zu kalt wird, sitze ich mit ihnen zusammen, probiere mich ein bisschen im Jonglieren mit Keulen und versuche das chilenische Spanisch zu verstehen, das irgendwie sehr niedlich klingt. Bevor ich nach Hause gehe, schreibe ich Mauricio noch meine Nummer auf einen Zettel, da er sein iPhone während seiner Reise verkauft hat, und er verspricht, mich später anzurufen. Ich weiß schon jetzt, dass ich definitiv mehr Zeit mit ihm und seinen Freunden verbringen möchte. Sie faszinieren mich einfach. Anders kann ich das nicht ausdrücken.
Sowieso scheint dieser Sonntag ein Tag der schicksalhaften Begegnungen zu sein: Im gleichen Park lerne ich nämlich auch den Salsa-Lehrer Luis kennen, der sechs Wochen in der Schweiz Deutsch gelernt hat und schonmal in Hannover war, weil eine gute Freundin aus Hildesheim dort Medizin studiert. Letztere hat er kennengelernt, als sie ebenfalls im Pablo Arturo Suarez ein Praktikum gemacht hat. Wir können es beide kaum glauben. ¡Que coincidencia! schon wieder mal... Auch mit Luis tausche ich Nummern aus.

Tatsächlich klingelt am gleichen Abend auch noch mein Handy und ich verabrede mich mit Mauricio und seinen Freunden für den nächsten Tag um 14 Uhr im Parque El Ejido. Als ich abends ins Bett gehe, dreht Juan laut den Song "Feeling Good" von Michael Bublé auf, denn er hatte heute ein offensichtlich erfolgreiches Date. Der Song passt wie die Faust aufs Auge, denn genauso fühle ich mich: einfach nur gut.

Als ich am Montag um punkt zwei am Treffpunkt ankomme, beginnen auf einmal die Zweifel an mir zu nagen. Passe ich da überhaupt hin? Ich sehe irgendwie so anders aus! Viel weniger wie eine Aussteigerin, die Armbändchen knüpft und Panflöte spielt. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich geradezu spießig!! Nach zehn Minuten steigen mir sogar Tränen in die Augen. Was, wenn ich mich mal wieder verhört habe und er "doce" gesagt hat und nicht "dos"? Das wäre mal wieder typisch! Außerdem kenne ich diese Leute doch gar nicht! Was wenn die ganzen Hippie-Clichees bezüglich Drogen usw. wirklich zutreffen? Ich zwinge mich, mich zu beruhigen, denn schließlich hasse ich Vorurteile wie die Pest. Eigentlich ist es doch völlig egal, wie man aussieht, denke ich. Wichtig ist nur, wo man sich wohlfühlt. 
Und kurz darauf tauchen auch schon drei bekannte Gesichter auf - Mauricio und Susana aus Chile und Felipe aus Brasilien. Wir warten noch eine Dreiviertelstunde auf Jorge, einen weiteren Chilenen, der aber nicht kommt, dann ziehen wir los ins Centro Histórico. Felipe hat ein Einrad dabei und unterwegs treffen wir ständig auf irgendwelche Leute, die die drei irgendwoher kennen. An einem Musikgeschaeft machen wir Halt und probieren das Mini-Akkordeon aus dem Schaufenster aus, und obwohl niemand von uns auch nur ein bisschen Ahnung vom Akkordeon Spielen hat, beschließen die drei, es demnächst zu kaufen. Angekommen in der Altstadt gehen wir in den Circo Social, der passenderweise an der Straßenkreuzung der Straßen Chile und Benalcázar liegt. Hierbei handelt es sich um ein landesweites Projekt, dass Jugendlichen aus der Armut helfen soll, indem man ihnen Artistik beibringt ( http://www.vicepresidencia.gob.ec/miembros-del-circo-social-ecuador-cumplen-jornadas-de-capacitacion-en-quito/ ). Wir sehen den jungen Leuten also eine Weile beim Training zu und üben dann selbst ein bisschen Jonglieren und Einrad Fahren. Als wir Hunger bekommen, gehen wir eine Empanada Chilena und Brot kaufen und laufen dann fast bis zum Panecillo - dem Berg mit der Engelsstatue in der Altstadt - hinauf, weil wir vergeblich ein Hostel suchen, in dem fast alle chilenischen Freunde wohnen. Als es dunkel wird, kaufen wir ein paar Becher Morocho - ein süßes heißes Getränk, dass ein bisschen so schmeckt wie Milchreis, nur flüssiger - und setzen uns gemeinsam in einen alten Hauseingang. Diesen Moment werde ich wohl nie vergessen, denn ich fühle mich einfach nur so wohl mit meinen drei neuen Freunden, die irgendwie so anders sind als ich und doch so ähnlich. Ich habe mich selten so gut und so natürlich gefühlt.. Ich sehe dabei zu, wie sich der leicht bewölkt Himmel von rosa über violett nach nachtblau färbt und trinke den letzten Rest Morocho aus dem Becher, den Mauricio sich mit mir geteilt hat. Dann laufen wir zusammen durch La Ronda und finden dort in der Nähe endlich das so lange gesuchte Hostel. Das Zimmer der Freunde entspricht tatsächlich allen Clichees: Es riecht nach Rauch und Marihuana und bis auf zwei Matratzen, Rucksäcke, ein zerschlissenes Liederbuch auf dem Boden und ein rostiges altes Fahrrad, das an der Wand lehnt, ist es so gut wie leer. Wir lassen uns alle auf dem Boden nieder, es wird ein Joint rumgereicht, den ich dankend ablehne, und einer der beiden Hippies mit Dreadlocks bis zum Po trommelt ohne Unterlass auf seiner neuen Holztrommel. Leider kann ich der Konversation kaum noch folgen, denn zum Einen bin ich total erschöpft und zum Anderen geht es hauptsächlich um Dinge, über die ich mich in der Regel nicht mal auf Deutsch unterhalte. Trotzdem bin ich froh, dabei zu sein. Ich frage mich, ob ich auch so reisen könnte. Ein ganzes Jahr lang ohne alles. Oder sogar länger... Vielleicht werde ich es eines Tages ausprobieren...












Dienstag, 13. August 2013

Ob eine Sache unmöglich ist, liegt meistens in den Augen des Betrachters

FORTSETZUNG NR. 2 - KOLUMBIEN

Da ich inzwischen absolut nicht mehr damit hinterher komme, alle meine Erlebnisse aufzuschreiben, hier nur noch das Wichtigste über meine restliche Zeit in Kolumbien:

Am 28. Juli fahren Ana, ihre Eltern, ihr Freund Alejandro und ich weiter in den Norden Kolumbiens nach Salento. Unterwegs machen wir im Zuckerrohr-Freilichtmuseum Halt, das eher einem botanischen Garten gleicht. Wunderschöne alte Bäume, Orchideen, Helikonien und ein Bächlein machen den Park zu einem kleinen Garten Eden. Salento selbst ist ein süßes buntes Dorf voller Kunsthandwerk-Geschäfte, in denen ich sicher mehr gekauft hätte als zwei Armbänder, wenn ich nicht mit dem Rucksack reisen würde. Dafür ist eines der beiden Armbänder eine ganz besondere Erinnerung für mich: Es besteht aus ganz vielen bunten Perlen unterschiedlicher Größe und Form, es ist so bunt und schillernd wie meine Phantasie und Traumwelt. Da ich mich hier in Kolumbien  häufig in meine Kindheit zurückversetzt gefühlt habe, ist mir mal wieder aufgefallen, wie wenig Raum viele von uns Heranwachsenden und Erwachsenen unseren Träumen noch lassen. Als Kind hat man so viel rumgesponnen, sich Dinge gewünscht, die scheinbar unmöglich sind. Zum Beispiel erinnere ich mich an einen England-Urlaub mit meinen Eltern, in dem ich unbedingt weiße Cola ("wie die in den Haribo-Cola-Flaschen") trinken wollte, weil ich der Meinung war, es müsse die doch in England geben. Meine Eltern haben mir dann einfach Zitronenlimonade bestellt, die genauso aussah und wahnsinnig gut schmeckte. Ich war damals überzeugt davon, weiße Cola zu trinken.
Was ich damit sagen möchte, ist, dass man sich durchaus Dinge wünschen kann, die unmöglich erscheinen. Ob etwas unmöglich ist oder nicht liegt in vielen Fällen nämlich in den Augen des Betrachters. Im Grunde habe ich es genauso für unmöglich gehalten, tatsächlich nach Kolumbien zu kommen, und mich daher fast nie getraut, es mir wirklich zu wünschen, um nicht enttäuscht zu werden. Letztendlich war der Schlüssel zur Erfüllung meines Wunsches einfach nur, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Und so ist es wohl mit vielen von unseren Träumen. Wir müssen uns nur trauen.
Ich beschließe also, jeder Perle meines Armbands einen ganz bestimmten Wunsch zuzuordnen. Damit ich mich daran erinnere, was ich wirklich möchte im Leben. Denn das wirklich zu wissen und dann dafür zu kämpfen ist gar nicht immer so einfach.

Abends fahren wir weiter in unser Hotel beim Kaffeedreieck, das wir am nächsten Tag besichtigen. Da ich eigentlich eine Art Nationalpark erwartet habe, bin ich überrascht, dass es diverse Fahrgeschäfte wie eine Achterbahn, Wildwasserbahnen und einen Freefall-Tower gibt. Es wäre der perfekte Ort für meine Eltern und mich - die tropischen Pflanzen, das Kaffeemuseum und die Tanzshow in traditionellen Kleidern für Mama und der Freizeitpark Papa. Und schon wieder fühle ich mich wie zu Hause. Es tut unglaublich gut zu wissen, dass man noch eine zweite Familie irgendwo am anderen Ende der Welt hat, und ich bin Ana und ihren Eltern sehr, sehr dankbar dafür, mir dieses Gefühl zu vermitteln.
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Querida familia:
¡Muchas gracias por ser mi familia colombiana! Me sentía como en casa con ustedes. Me recordaban mucho a mis padres y pienso que harían buenos amigos si se encontraran una vez y si mis padres hablaran español. Espero que vayamos a vernos otra vez pronto. La universidad en Berlin me aceptó, entonces podrían visitarme allí cuando llegan a Alemania. Me encantaría enseñar todo a ustedes, ¡es una ciudad fenomenal!
¡Que les vaya super bien!
Muchos besos,
Linda

Mittwoch, 7. August 2013

"Solange uns die Menschlichkeit miteinander verbindet, ist egal, was uns trennt." - Ernst Ferstl

Nachdem ich einige besorgten Anrufe und Nachrichten erhalten habe, hier die Entwarnung: Keine Sorge, ich lebe noch! Ich habe mir lediglich den Rat einer Freundin zu Herzen genommen, mich nicht allzu sehr mit dem Schreiben zu stressen, sondern meine Zeit hier voll und ganz zu genießen. Außerdem habe ich auch nicht mehr die richtigen Worte gefunden für all die Dinge, die sich innerhalb der letzten anderthalb Wochen ereignet haben. Mindestens dreimal saß ich schon am Computer und habe angefangen zu schreiben, um danach wieder den gesamten Text zu löschen. Vielleicht war alles einfach mal wieder zu viel. Zu viele Menschen, zu viele Eindrücke, zu viele Gefühle...

Nur so viel kann ich schon einmal verraten: Besonders in den letzten zwei Wochen ist es mir trotz meiner eher rudimentären Spanischkenntnisse gelungen, durchaus tiefgruendige Beziehungen zu ganz besonderen und sehr unterschiedlichen Menschen zu knüpfen. Von einer Art Blind-Date bis hin zu einem Hippie-Fest argentinischer und chilenischer Backpacker habe ich so Einiges erlebt, das ich mir nie hätte träumen lassen. Und obwohl fast alle Situationen und Personen auf eine gewisse Art und Weise absolut fremd für mich waren, ist mir Eines besonders bewusst geworden: Wir sind alle Menschen, die miteinander verwandt sind, wenn auch über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende entfernt. Bestimmt habe ich schon haufenweise Cousinen und Cousins hundertsten Grades getroffen, ohne jegliche Kenntnis davon zu nehmen. Wenn wir uns darüber klar werden, dass alle Menschen auf dieser Welt also im Prinzip unsere Familie sind, fällt es uns viel leichter, der Fremde, der Andersartigkeit unvoreingenommen zu begegnen. Jeder Mensch und seine Lebensweise haben ihre Berechtigung - so wenig wir Manches auch zu verstehen vermögen.

Donnerstag, 1. August 2013

"Es gibt keinen Weg zum Glück. Glücklichsein ist der Weg." - Buddha

NEU: CALI - die ersten drei Tage - FORTSETZUNG FOLGT!

25. Juli

Heute gehe ich nicht arbeiten, sondern laufe den gleichen Weg zur Bushaltestelle mit vollgepacktem Rucksack und schwelgend in Erinnerungen. Wie lange ist das her, dass ich in Flip-Flops mit Tränen in den Augen dem mit Ana abfahrenden ICE hinterher gerannt bin? Eine halbe Ewigkeit? Fünf Minuten? Oder wirklich zwei Jahre? Schon damals habe ich immer gesagt, dass ich nach Kolumbien reisen und sie besuchen kommen würde. Doch habe ich wirklich daran geglaubt?
Ich gehe noch schnell in ein Internetcafé, um mein Ticket auszudrucken, denn unser Drucker funktioniert leider nicht, dann steige ich das erste Mal in einen Catar-Bus, der mich zum alten Flughafen Quitos bringt. Ähnlich wie der Tempelhof-Flughafen in Berlin ist der aeropuerto antiguo jetzt ein Park, in dem die Quiteños inline skaten, Fahrrad fahren und Drachen steigen lassen. Das Terminal wurde zum Bus-Terminal für die Shuttle-Busse zum neuen Flughafen umfunktioniert, sogar das Gepäckband ist noch in Betrieb und im Bus wird ein Sicherheitsvideo gezeigt, das fast wie eine Parodie wirkt. Obwohl die Fahrt im Luxusbus mit W-LAN 90 Minuten dauert, bin ich viel zu früh am Flughafen, wo ich erstmal ausgiebig und völlig überteuert Mittag esse. Noch immer scheint es wie ein ferner Traum, dass ich jetzt tatsächlich nach Cali fliege und selbst, als ich nach einem turbulenzenreichen Flug in der Stadt inmitten von Zuckerrohrfeldern und Palmen lande, kann ich es einfach nicht glauben. Warum eigentlich? Weil ich das erste Mal eine doch etwas größere Entscheidung ohne die Zustimmung meiner Eltern getroffen habe? Auf einmal wird mir ganz mulmig. Warum habe ich das gemacht? Was, wenn Kolumbien wirklich so gefährlich ist, wie alle sagen? Wenn man mir Drogen in mein Gepäck schmuggelt? Wenn ich entführt, gar verschleppt werde?!
Aber jetzt mal ehrlich: Auch wenn meine Eltern intelligente Menschen sind, deren Meinung ich sehr zu schätzen weiß, heißt das noch lange nicht, dass sie immer recht haben müssen. Und jetzt, eine Woche später, bereue kein bisschen, in Kolumbien gewesen zu sein, sondern vielmehr, nicht länger bleiben zu können. Auch wenn ich bisher "nur" Cali und das Kaffeedreieck kennengelernt habe, weiß ich schon jetzt, dass Kolumbien eines der schönsten Länder ist, in denen ich je war.

Als ich den Gepäckraum verlasse, steht Ana mit einem bunten Plakat mit meinem Namen direkt vor mir und ich renne sofort auf sie zu. Ich lerne ihre Eltern Erich und Nubia kennen, die ich bisher nur von Fotos kenne, und fühle mich gleich fast so vertraut wie in meiner eigenen Familie. Das einzig Merkwürdige ist, dass Ana auf einmal Spanisch redet. Klar, sie ist Kolumbianerin. Aber bisher haben wir immer Deutsch gesprochen, denn damals, als wir uns kennengelernt haben, habe ich gerade mal ein paar Brocken dieser wunderschönen Sprache beherrscht. Als wir den Flughafen verlassen, kommt uns ein Schwall tropischer Hitze entgegen, sodass ich froh bin, dass das Auto gut klimatisiert ist. Nach der 20-minütigen Fahrt durch das intensive Grün kommen wir in der Gated Community an, in der Ana wohnt. Ich habe ein eigenes Zimmer, das Ana extra komplett für mich ausgemistet hat. Auf meinem Nachttischchen liegt das Fotoalbum, das ich damals als Abschiedsgeschenk für sie gebastelt habe und ich bin wahnsinnig gerührt, es wieder anzusehen, zumal Ana alle Postkarten, die ich ihr in den letzten Jahren geschickt habe, eingeklebt hat. Wir sind beide unglaublich glücklich, dass ich jetzt wirklich (!!!) da bin. Wir erzählen uns von unseren Abientlassungsfeiern und -bällen und ich schaue mir Anas Seite im Abibuch an und werde schon wieder total sentimental: Ana hat tatsächlich groß eines meiner Lieblingszitate neben ihren Text gesetzt, weil sie gerade an mich gedacht hatte:
"Es gibt keinen Weg zum Glück. Glücklichsein ist der Weg."
Mal wieder ein komischer Zufall. Denn diese Weisheit Buddhas passt genau auf die Dinge, die mir in Cali, aber auch in Lateinamerika generell, besonders bewusst geworden sind: Die meisten Menschen hier scheinen einfach glücklicher, möglicherweise weil sie nicht so viel im Leben suchen, nicht so viel planen wie wir Deutschen. Nicht, dass eine Grundstruktur im Leben schlecht wäre, das will ich nicht sagen. Aber die Steifheit, mit der viele von uns Deutschen versuchen, Dinge zu erzwingen, heiße ich nicht gut. Warum planen und strukturieren wir alles, aber auch alles durch? Ein gutes Studium (bloß nicht Kunst oder Philosophie, damit findet man ja keinen Job) direkt nach dem Abitur, das mit einer 1 vor dem Komma abgeschlossen werden muss, am besten einen Doktortitel, Heirat mit Ende 20, Kinder mit Anfang 30. Mittwochs um 19 Uhr Kegeln mit Freunden. Freitags um 20 Uhr ein Bier mit den Kollegen. Sonntags um 20:15 Uhr Tatort mit der Familie auf dem Sofa. Einmal im Jahr Urlaub auf Mallorca. (...) Aber wer bitte will das denn wirklich???!!!
Natürlich treffen nicht all diese Beispiele auf jeden zu, aber im Grunde haben die meisten von uns feste Pläne, die sich nur schwer abändern lassen. Und wenn wir es trotzdem versuchen oder spontan sein wollen, stellt uns das vor große Schwierigkeiten. "Wollen wir uns nächsten Donnerstag einfach spontan treffen und dann spontan entscheiden, was wir machen?" Diese Frage ist im Grunde ein Paradoxon an sich, aber meines Erachtens bringt sie unser Maß an Spontanität ziemlich gut auf den Punkt. Wie will man sich denn auch spontan treffen, wenn alle anderen ihre Tage schon eine Woche im Voraus zuplanen?
Leider bleibt uns auf diese Weise auch in der Regel keine Zeit, zu tun, wonach uns momentan (spontan!) ist. Denn es wäre ja unhöflich, unsere Verabredung abzusagen, wenn wir gerade lieber allein in der Badewanne unseren Lieblingsroman schmökern wollen, weil wir einen anstrengenden Tag hatten. Und ich glaube, genau das ist es, was uns unglücklich macht. Nicht auf unsere Eingebungen hören zu können/zu wollen. Ich persönlich habe irgendwann komplett verlernt, auf mein Bauchgefühl zu hören, weil ich meistens einfach das getan habe, was mein soziales Umfeld von mir erwartet hat. Im Grunde ist es auch befriedigend, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen, in einer gewissen Weise fühlt man sich anerkannt und geliebt. Doch für einsame Tage, für Tage des Streits, der Trauer, fehlt uns etwas. Die Achtung vor uns selbst.
Ich mag nicht sagen, dass wir uns selbst lieben sollen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwierig das ist. Aber wir müssen uns Zeit für uns nehmen, genauso wie für unsere Familie und unsere Freunde. Und wir müssen uns Zeit dafür nehmen, das Leben zu genießen und nicht ständig darauf hinarbeiten, irgendwann Zeit dafür zu haben, das Leben mehr genießen zu können. Denn warum sollten wir in 10 Jahren mehr Spaß am Tanzen, am Lachen, am Singen haben als heute?
Ich habe einmal über eine Glücksstatistik gelesen, der zufolge die glücklichsten Menschen der Welt in Südamerika leben (dies wurde unter Anderem daran festgemacht, wie häufig die Befragten im Schnitt am Tag lachen). Erst habe ich das für Quatsch gehalten, weil ich immer daran geglaubt habe, dass wir alle immer wieder glücklich und traurig sind, auf unsere eigene Art und Weise. Inzwischen denke ich aber anders. Ich glaube immer noch, dass die Möglichkeit besteht, überall auf der Welt glücklich zu sein. Allerdings fällt es uns an bestimmten Orten leichter: Zumeist in Gesellschaften, in denen weniger Wert auf die berufliche Karriere gelegt wird als auf das aktuelle Befinden. Entsprechend sind die Einwohner Singapurs laut Statistik im Schnitt am unglücklichsten - kein Wunder in dieser Wirtschaftsmetropole voller karrierestrebender DINK-Familien (double income - no kids).

Ich genieße Kolumbien also in vollen Zügen, denn danach ist mir gerade. Am ersten Abend gehen wir an einem der sieben Flüsse in Cali essen - ich probiere den Saft der Lulo, einer Frucht die in der Erde des Valle de Cauca, in dem Cali liegt, besonders gut gedeiht, und typisch kolumbianische Empanadas. Sowieso ist meine Kolumbienreise ein kulinarischer Genuss von überbackenem Mais in einem kolumbianischen Fastfoodrestaurant über Arepas (leckere Maistaler mit Käse) zum Frühstück bis hin zu typisch kolumbianischem Milchreis, der sehr viel süßer ist als der deutsche und unheimlich lecker.
Nach dem Essen spazieren wir mit übervollen Bäuchen zu einem der neuen Wahrzeichen Calis: den Katzen des Flusses (las gatas del río). Sie sind die 17 Freundinnen einer riesigen Katerstatue des bekannten Künstlers Hernando Tejada und ähnlich wie die Berliner Bären sind sie alle verschieden gestaltet und symbolisieren bestimmte Charakteristika der Stadt Cali. Ich bin total begeistert, denn ich liebe Katzen über alles. Wenn ich irgendetwas an Deutschland vermisse, ist es definitiv unser Kater Rosi. Ansonsten spüre ich nach wie vor nicht einen Hauch von Heimweh. Aber ich denke, das ist ein gutes Zeichen, denn das heißt wohl, dass es mir hier ziemlich gut geht. ;-)

Als wir nach Hause fahren, weht der Wind der lauen Sommernacht zum Fenster hinein. Er riecht angenehm salzig nach Kartoffeln und Fleisch, das in den Garkuechen gegrillt wird. Es ist ein Geruch nach Genuss, den ich bisher an keinem anderen Ort auf der Welt gerochen habe. Und für mich ist es auch ein Geruch nach Freiheit. Ich werde ihn vermissen.





26. Juli:

Heute sehe ich die Stadt das erste Mal so richtig im Hellen. Irgendwie wirkt sie weniger staubig als Quito, ordentlicher und kolonialistischer (wenn man vom centro histórico absieht). Auch der Verkehr ist bis auf das Meer von Mofas, die fahren wie sie wollen, weniger chaotisch - vermutlich weil sich weniger Leute ein Auto leisten können, da  Benzin fast so teuer ist wie bei uns in Deutschland. Ähnlich wie in Quito zieren Cali eine Vielfalt an blühenden, riesigen alten Bäumen und Sträuchern. Jedoch ist die Vegetation weit tropischer - insbesondere die vielen Arten von Helikonien gefallen mir sehr und ich muss bei den reichen Blüten häufig an Mama denken, die sich dafür sicher begeistern würde.
Wir spazieren durch das Zentrum der Stadt und machen einen Abstecher ins Goldmuseum, in dem ich die Herkunft des schrecklichen Trends der Ohrlochdehnung entdecke ;-) Für die Einheimischen scheine ich dank meiner blonden Haare und weißen Haut eine wahre Attraktion zu sein, Gott sei Dank starren mich die meisten Leute aber einfach nur an und trauen sich nicht, Fotos mit mir zu machen so wie die Inder.
Dank der Mittagshitze sind wir nach zwei Stunden alle komplett geschafft und trinken daher einen Eiskaffee in einer Mall. Dort entdecke ich die tatsächliche Gefahr Kolumbiens für Frauen: Es ist das Italien 2.0! Gleich im ersten Laden, den ich betrete, bleibe ich hängen und kaufe drei (!!!) neue Kleider. Habe ich schonmal erwähnt, dass ich mit einem Rucksack reise? ;-)
Eines der Kleider kann ich am gleichen Abend noch zur Schau stellen, denn wir haben Karten für das Salsa-Spektakel "Delirio" - die wohl beeindruckendste und längste Tanzshow, die ich je gesehen habe. Kein Wunder, schließlich ist Cali die Hauptstadt des Salsa! Leider dürfen keine Fotos gemacht werden, weswegen ich meine Kamera zu Hause lasse, aber Ana hat zum Glück ihr Handy dabei. Um halb drei fallen wir alle völlig geschafft und noch mit Latino-Tanzrhythmen in den Beinen in unsere Betten.

Mein neues Zuhause in Cali


Ursprung der heutigen Ohrschmuck-Mode

Maschine, mit der der Saft des Zuckerrohrs gewonnen wird












 
27. Juli

Den heutigen Tag gehen wir nach unserer fast schlaflosen Nacht geruhsam an. Nach einem ausgiebigen Frühstück mit Arepas und Zimtschnecken fahren wir mit dem Auto in die Berge. Ich glaube, ich habe selten eine so bunte Landschaft gesehen. Die rote Erde der Montañas ist von grünen und glben Sträuchern und Bäumen besetzt, aus der Ferne betrachtet verschwimmt alles zu einem fröhlichen Flickenteppich. Auch das Dorf, durch das wir bald fahren, passt perfekt ins Bild: Infolge eines Projekts, das die armen Wohngegenden in und um Cali aufwerten soll, werden alle Gebäude in verschiedensten Farben angemalt (s. Foto). Ich lasse das Fenster hinunter. Die angenehm frische Bergluft verwuschelt meine Haare und ich fühle mich ein klein wenig wacher. Trotzdem rede ich kaum. Es ist mir schon fast peinlich, aber aus irgendwelchen Gründen habe ich ier fast nie das Bedürfnis zu sprechen. Genauso geht es mir im Übrigen auch mit dem Schreiben: Eigentlich schreibe oder rede ich nur, wenn ich glaube, auch etwas zu sagen zu haben. Denn warum sollte ich auch mitteilen, was sowieso offensichtlich ist?
Mittags essen wir wie fast jeden Tag in Cali im Haus von Anas Oma. Nach dem leckeren kolumbianischen Mittagessen, das uns die Haushälterin Martha kocht, legen wir uns ein bisschen hin und leider (oder Gott sei  Dank!) weckt Ana mich erst um halb sechs wieder, als ich einigermaßen ausgeschlafen bin.
Wir fahren zum Olympiastadion und laufen über den Plaza de Banderas - den Platz der Flaggen, auf dem viele junge Familien in der Abenddämmerung selbstgebastelte Drachen steigen lasen. Besonders gut ggefällt mir ein Exemplar aus mehreren bunt gemusterten Regenschirmen.
Vor dem Stadion soll auch die Stadtrundfahrt im Doppeldeckerbus beginnen, die Ana und ihre Eltern extra schon vor Tagen gebucht haben. Leider ist uns aber unklar, wo genau wir in den Bus steigen sollen, weshalb Ana mindestens zwei Telefonate mit dem Veranstalter  führt, aus denen wir nicht hundertprozentig schlau werden. Nach zwanzig Minuten Warterei wird Ana zunehmend ungeduldig und ruft noch mal bei der zuständigen Mitarbeiterin an, woraufhin sich herausstellt, dass wir doch an der falschen Stelle stehen. Doch auch an der korrekten "Haltestelle" wartn wir vergeblich. Ich wweiß nicht, wie häufig Ana und ihr Papa wütend bei diesem Busunternehmen angerufen haben. Jedenfalls werde ch nie vergessen, wie süß das ist, wenn Ana sich wirklich aufregt. Wahrscheinlich sind viele Südamerikaner schon irgendwie emotionalr als die meisten Europäer. Ich dagegen muss nur darüber schmunzeln, dass Ana sich so typisch deutsch über die  Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit muckiert, während ich mich inzwischen an die hiesigen Verhältnisse schon so gut wie gewöhnt habe. ;-)
Die Stadtrundfahrt selbst ist sehr abenteuerlich, da wir uns ständig ducken müssen, um keine Äste ins Gesicht geschleudert zu bekommen. Es läuft die ganze Zeit typische música valluna - Musik aus dem Valle de Cauca, in dem Cali liegt. Besonders über Cali und seine schönen Frauen gibt es hier besonders viele Lieder. Ich versuche mir eine Stadtrundfahrt durch Hannover vorzustellen, auf der lautstark Lobeshymnen auf die Stadt und die Hannoveraner im Radio gespielt werden. Ich scheitere kläglich.
Da wir fast bis elf in besagtem Bus unterwegs sind, essen wir zum Abendbrot Maicitos - mit Käse überbackenen Mais - im typisch kolumbianischen Fastfood-Restaurant Mario Bross (deutsch: Mario Luigi), in dem ich unvermittelt an meine Kindheitstage mit dem Gameboy meines Großcousins und dem Raclette-Esse an Silvester zurückdenken muss. Ja, ich fühle mich in bei Anas Familie wie zu Hause und bin wirklich traurig, dass die Hälfte meiner Zeit in Kolumbien schon vorbei ist. atsächlich ist das größte Risiko in Kolumbien wohl wirklich, nicht mehr aus diesem wundervollen Land weg zu wollen, womit auch der kolumbianische Tourismusverband wirbt: El riesgo es que te quieras quedar!




Chipichape!





im Zuckerrohr-Museum




















eje cafetero





nach der Wildwasserbahn...









Genifer und ich

Wenn wir früher versuchen, zu uns selbst zu finden, haben wir weniger Zeit, uns zu verlieren.