Medizin aus dem Dschungel - Schamanismus in Ecuador
Ein ungepflegter zahnloser Mann spricht
Señora Ocampo* vor einem Einkaufzentrum im Süden Quitos auf der Straße an.
Eigentlich hat sie es eilig, aber der Mann fuchtelt so verzweifelt mit einem
Zettel, dass sie kurz innehält. Er bittet sie, ihr eine Adresse auf dem Fetzen
Papier vorzulesen, da er nicht lesen könne. Um die unsaubere Schrift besser
erkennen zu können, nimmt sie den Zettel in die Hand. Daraufhin bittet der Mann
Señora Ocampo um all ihr Bargeld. Sie kommt seiner Bitte unverzüglich nach und
hebt auf weitere Nachfrage hin sogar noch 200 Dollar für ihn ab. Als sich der
gebrechliche Mann aus dem Staub macht, lässt er sie völlig verwirrt und wütend
auf sich selbst zurück. Warum hatte sie einfach so einem Fremden mehr Geld als
ihr Monatsgehalt gegeben?
Die Antwort lautet Escopolamina, wie mir die
ecuadorianische Lehrerin in einem Seminar über Medizinpflanzen erklärt. Escopolamina
ist eine in Südamerika verbreitete Droge. Ihre pflanzliche Grundlage wird aus
der Rinde der Engelstrompete gewonnen; durch ihre chemische Verarbeitung entsteht
eine Substanz, die bei bloßem Hautkontakt willenlos und fügsam machen soll. Das
kommt mir absurd vor, trotzdem lässt mich die Sache nicht mehr los. Ich
beschließe, auf meiner dreimonatigen Südamerikareise unbedingt mal bei einem
Schamanen nachzufragen.
Leider hat der Schamanismus in Ecuador
inzwischen sehr an Bedeutung verloren und wird fast nur noch in den indigenen
Dörfern in der „selva“, dem Regenwald, praktiziert. Viele Schamanen verdienen
laut meiner Lehrerin außerdem hauptsächlich am Tourismus und beherrschen die
traditionelle Kunst nicht mehr richtig.
Zum Glück gelingt es mir trotzdem, einen
„echten“ Schamanen im Cuyabeno-Reservat aufzutun. Er lebt mit seiner Familie
etwas abseits von seinem Dorf in einem riesigen Haus aus Holz und Bambus,
umgeben von seinem noch sehr viel größeren Garten voller Medizinpflanzen. Der
Schamane Tomás begrüßt mich und meine Freunde in der traditionellen
Zeremonie-Tracht. Er trägt ein türkisblaues Gewand und zahlreiche Armbänder und
Ketten aus Federn, Raubkatzenzähnen, Kernen tropischer Früchte und Muscheln.
Eine bunte Krone aus Palmblättern, Wolle und Federn ziert Tomás’ Kopf, sein
Gesicht ist bemalt mit Mustern aus roter Naturfarbe. Die Muster und der Schmuck
symbolisieren die traditionellen Inka-Gottheiten Condor, Jaguar und Schlange,
die in kombiniert miteinander Kraft und Harmonie ausstrahlen sollen. Dies ist
wichtig für die Therapie eines Patienten, bei der der Schamane Kontakt zur
Götterwelt sucht, um das Problem des Patienten besser zu verstehen und ihn
optimal behandeln zu können.
Dann berichtet Tomás von seinem Werdegang.
Bereits im Alter von acht Jahren begann er, bei seinem Vater Unterricht über
Medizinpflanzen zu nehmen. Schamane zu werden erfordere viel Geduld und Zeit im
Garten beim genauen Studium der Kräuter, Sträucher und Bäume. Fast alle haben
einen medizinischen Nutzen, selbst wenn nur als Zeremonie-Utensil wie der Suru-Panga-Strauß
zur Reinigung der Aura des Patienten.
Um sein Studium abzuschließen, musste Tomás
wie jeder andere werdende Schamane als junger Mann eine Prüfung ablegen. Dazu
wurde ihm eine kleine Menge an Escopolamina verabreicht. Unter dem Einfluss der
Droge musste er alle Prüfungsaufgaben tadellos erfüllen. „Ich war unglaublich
aufgeregt“, erzählt er mit deutlicher Spannung in der Stimme. „Schließlich
hätte die Droge mich umbringen können!“.
Auf meine Frage hin bestätigt Tomás auch die
bewusstseinsverändernde Wirkung von Escopolamina.
Als nächstes weiht er uns in die typischen
Behandlungsrituale ein. Zunächst trinken Arzt und Patient ein bisschen Chichua,
ein Getränk aus vergorener Yuca, um sich in einen tranceähnlichen Zustand zu
versetzen. Der Patient setzt sich daraufhin auf den Boden und schließt die
Augen, während der Schamane mit einem Bündel aus Suru-Panga-Blättern über den
gesamten Körper streicht, um die schlechte Energie zu vertreiben. Dabei singt
er in einer fremden Sprache, um Kontakt mit den Göttern aufzunehmen.
Nach der häufig stundenlangen Zeremonie
verschreibt der Heiler dem Patienten bestimmte Kräuter und gibt Anordnungen wie
z.B. Alkoholverbot über einen bestimmten Zeitraum.
In anderen Regionen Ecuadors ist eine
Diagnosemethode mithilfe von Meerschweinchen, die in der Sierra übrigens auch
gerne gegessen werden, verbreitet: Ein lebendiges Meerschweinchen wird an den
Körper des Kranken gerubbelt, sodass sich die schlechte Energie überträgt.
Daraufhin wird dem Tier der Bauch aufgeschlitzt, damit der Schamane seine
Organe untersuchen kann, die ähnlich angeordnet sind wie beim Menschen.
So merkwürdig diese Therapieformen auch sein
mögen – der Schamanismus hilft den meisten kranken Dorfbewohnern. Als ich mir
einmal den Magen-Darm-Trakt mit schlechtem Essen verderbe, darf ich das an
eigenem Leibe erfahren. Trotz Fieber, Diarrhoe und Erbrechen bin ich innerhalb
von zwei Tagen wieder topfit. Meine einzige Medizin sind mehrere Liter
Oregano-Tee mit Honig am Tag – eine Empfehlung aus dem ecuadorianischen
Dschungel.
Leider wird in den Städten heutzutage sehr
viel weniger auf die traditionellen Medizinpflanzen zurückgegriffen. Die meisten
Ecuadorianer gehen auch bei den kleinsten Beschwerden in die Apotheken, in
denen jegliche Art von Medikamenten frei erwerbbar ist. Als ich krank bin,
möchte meine Gastmutter auch mich sofort zum Arzt schicken, obwohl mir sehr
klar ist, dass ich einfach etwas Falsches gegessen habe.
Leider mangelt es dank der modernen Denkweise
auch an jungen Menschen, die in die Fußstapfen von Tomás und seinen Kollegen
treten. So haben viele indigene Dörfer heute keine Schamanen mehr – obwohl
diese häufig die einzige medizinische Versorgung weit und breit sind.
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