Donnerstag, 1. August 2013

"Es gibt keinen Weg zum Glück. Glücklichsein ist der Weg." - Buddha

NEU: CALI - die ersten drei Tage - FORTSETZUNG FOLGT!

25. Juli

Heute gehe ich nicht arbeiten, sondern laufe den gleichen Weg zur Bushaltestelle mit vollgepacktem Rucksack und schwelgend in Erinnerungen. Wie lange ist das her, dass ich in Flip-Flops mit Tränen in den Augen dem mit Ana abfahrenden ICE hinterher gerannt bin? Eine halbe Ewigkeit? Fünf Minuten? Oder wirklich zwei Jahre? Schon damals habe ich immer gesagt, dass ich nach Kolumbien reisen und sie besuchen kommen würde. Doch habe ich wirklich daran geglaubt?
Ich gehe noch schnell in ein Internetcafé, um mein Ticket auszudrucken, denn unser Drucker funktioniert leider nicht, dann steige ich das erste Mal in einen Catar-Bus, der mich zum alten Flughafen Quitos bringt. Ähnlich wie der Tempelhof-Flughafen in Berlin ist der aeropuerto antiguo jetzt ein Park, in dem die Quiteños inline skaten, Fahrrad fahren und Drachen steigen lassen. Das Terminal wurde zum Bus-Terminal für die Shuttle-Busse zum neuen Flughafen umfunktioniert, sogar das Gepäckband ist noch in Betrieb und im Bus wird ein Sicherheitsvideo gezeigt, das fast wie eine Parodie wirkt. Obwohl die Fahrt im Luxusbus mit W-LAN 90 Minuten dauert, bin ich viel zu früh am Flughafen, wo ich erstmal ausgiebig und völlig überteuert Mittag esse. Noch immer scheint es wie ein ferner Traum, dass ich jetzt tatsächlich nach Cali fliege und selbst, als ich nach einem turbulenzenreichen Flug in der Stadt inmitten von Zuckerrohrfeldern und Palmen lande, kann ich es einfach nicht glauben. Warum eigentlich? Weil ich das erste Mal eine doch etwas größere Entscheidung ohne die Zustimmung meiner Eltern getroffen habe? Auf einmal wird mir ganz mulmig. Warum habe ich das gemacht? Was, wenn Kolumbien wirklich so gefährlich ist, wie alle sagen? Wenn man mir Drogen in mein Gepäck schmuggelt? Wenn ich entführt, gar verschleppt werde?!
Aber jetzt mal ehrlich: Auch wenn meine Eltern intelligente Menschen sind, deren Meinung ich sehr zu schätzen weiß, heißt das noch lange nicht, dass sie immer recht haben müssen. Und jetzt, eine Woche später, bereue kein bisschen, in Kolumbien gewesen zu sein, sondern vielmehr, nicht länger bleiben zu können. Auch wenn ich bisher "nur" Cali und das Kaffeedreieck kennengelernt habe, weiß ich schon jetzt, dass Kolumbien eines der schönsten Länder ist, in denen ich je war.

Als ich den Gepäckraum verlasse, steht Ana mit einem bunten Plakat mit meinem Namen direkt vor mir und ich renne sofort auf sie zu. Ich lerne ihre Eltern Erich und Nubia kennen, die ich bisher nur von Fotos kenne, und fühle mich gleich fast so vertraut wie in meiner eigenen Familie. Das einzig Merkwürdige ist, dass Ana auf einmal Spanisch redet. Klar, sie ist Kolumbianerin. Aber bisher haben wir immer Deutsch gesprochen, denn damals, als wir uns kennengelernt haben, habe ich gerade mal ein paar Brocken dieser wunderschönen Sprache beherrscht. Als wir den Flughafen verlassen, kommt uns ein Schwall tropischer Hitze entgegen, sodass ich froh bin, dass das Auto gut klimatisiert ist. Nach der 20-minütigen Fahrt durch das intensive Grün kommen wir in der Gated Community an, in der Ana wohnt. Ich habe ein eigenes Zimmer, das Ana extra komplett für mich ausgemistet hat. Auf meinem Nachttischchen liegt das Fotoalbum, das ich damals als Abschiedsgeschenk für sie gebastelt habe und ich bin wahnsinnig gerührt, es wieder anzusehen, zumal Ana alle Postkarten, die ich ihr in den letzten Jahren geschickt habe, eingeklebt hat. Wir sind beide unglaublich glücklich, dass ich jetzt wirklich (!!!) da bin. Wir erzählen uns von unseren Abientlassungsfeiern und -bällen und ich schaue mir Anas Seite im Abibuch an und werde schon wieder total sentimental: Ana hat tatsächlich groß eines meiner Lieblingszitate neben ihren Text gesetzt, weil sie gerade an mich gedacht hatte:
"Es gibt keinen Weg zum Glück. Glücklichsein ist der Weg."
Mal wieder ein komischer Zufall. Denn diese Weisheit Buddhas passt genau auf die Dinge, die mir in Cali, aber auch in Lateinamerika generell, besonders bewusst geworden sind: Die meisten Menschen hier scheinen einfach glücklicher, möglicherweise weil sie nicht so viel im Leben suchen, nicht so viel planen wie wir Deutschen. Nicht, dass eine Grundstruktur im Leben schlecht wäre, das will ich nicht sagen. Aber die Steifheit, mit der viele von uns Deutschen versuchen, Dinge zu erzwingen, heiße ich nicht gut. Warum planen und strukturieren wir alles, aber auch alles durch? Ein gutes Studium (bloß nicht Kunst oder Philosophie, damit findet man ja keinen Job) direkt nach dem Abitur, das mit einer 1 vor dem Komma abgeschlossen werden muss, am besten einen Doktortitel, Heirat mit Ende 20, Kinder mit Anfang 30. Mittwochs um 19 Uhr Kegeln mit Freunden. Freitags um 20 Uhr ein Bier mit den Kollegen. Sonntags um 20:15 Uhr Tatort mit der Familie auf dem Sofa. Einmal im Jahr Urlaub auf Mallorca. (...) Aber wer bitte will das denn wirklich???!!!
Natürlich treffen nicht all diese Beispiele auf jeden zu, aber im Grunde haben die meisten von uns feste Pläne, die sich nur schwer abändern lassen. Und wenn wir es trotzdem versuchen oder spontan sein wollen, stellt uns das vor große Schwierigkeiten. "Wollen wir uns nächsten Donnerstag einfach spontan treffen und dann spontan entscheiden, was wir machen?" Diese Frage ist im Grunde ein Paradoxon an sich, aber meines Erachtens bringt sie unser Maß an Spontanität ziemlich gut auf den Punkt. Wie will man sich denn auch spontan treffen, wenn alle anderen ihre Tage schon eine Woche im Voraus zuplanen?
Leider bleibt uns auf diese Weise auch in der Regel keine Zeit, zu tun, wonach uns momentan (spontan!) ist. Denn es wäre ja unhöflich, unsere Verabredung abzusagen, wenn wir gerade lieber allein in der Badewanne unseren Lieblingsroman schmökern wollen, weil wir einen anstrengenden Tag hatten. Und ich glaube, genau das ist es, was uns unglücklich macht. Nicht auf unsere Eingebungen hören zu können/zu wollen. Ich persönlich habe irgendwann komplett verlernt, auf mein Bauchgefühl zu hören, weil ich meistens einfach das getan habe, was mein soziales Umfeld von mir erwartet hat. Im Grunde ist es auch befriedigend, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen, in einer gewissen Weise fühlt man sich anerkannt und geliebt. Doch für einsame Tage, für Tage des Streits, der Trauer, fehlt uns etwas. Die Achtung vor uns selbst.
Ich mag nicht sagen, dass wir uns selbst lieben sollen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwierig das ist. Aber wir müssen uns Zeit für uns nehmen, genauso wie für unsere Familie und unsere Freunde. Und wir müssen uns Zeit dafür nehmen, das Leben zu genießen und nicht ständig darauf hinarbeiten, irgendwann Zeit dafür zu haben, das Leben mehr genießen zu können. Denn warum sollten wir in 10 Jahren mehr Spaß am Tanzen, am Lachen, am Singen haben als heute?
Ich habe einmal über eine Glücksstatistik gelesen, der zufolge die glücklichsten Menschen der Welt in Südamerika leben (dies wurde unter Anderem daran festgemacht, wie häufig die Befragten im Schnitt am Tag lachen). Erst habe ich das für Quatsch gehalten, weil ich immer daran geglaubt habe, dass wir alle immer wieder glücklich und traurig sind, auf unsere eigene Art und Weise. Inzwischen denke ich aber anders. Ich glaube immer noch, dass die Möglichkeit besteht, überall auf der Welt glücklich zu sein. Allerdings fällt es uns an bestimmten Orten leichter: Zumeist in Gesellschaften, in denen weniger Wert auf die berufliche Karriere gelegt wird als auf das aktuelle Befinden. Entsprechend sind die Einwohner Singapurs laut Statistik im Schnitt am unglücklichsten - kein Wunder in dieser Wirtschaftsmetropole voller karrierestrebender DINK-Familien (double income - no kids).

Ich genieße Kolumbien also in vollen Zügen, denn danach ist mir gerade. Am ersten Abend gehen wir an einem der sieben Flüsse in Cali essen - ich probiere den Saft der Lulo, einer Frucht die in der Erde des Valle de Cauca, in dem Cali liegt, besonders gut gedeiht, und typisch kolumbianische Empanadas. Sowieso ist meine Kolumbienreise ein kulinarischer Genuss von überbackenem Mais in einem kolumbianischen Fastfoodrestaurant über Arepas (leckere Maistaler mit Käse) zum Frühstück bis hin zu typisch kolumbianischem Milchreis, der sehr viel süßer ist als der deutsche und unheimlich lecker.
Nach dem Essen spazieren wir mit übervollen Bäuchen zu einem der neuen Wahrzeichen Calis: den Katzen des Flusses (las gatas del río). Sie sind die 17 Freundinnen einer riesigen Katerstatue des bekannten Künstlers Hernando Tejada und ähnlich wie die Berliner Bären sind sie alle verschieden gestaltet und symbolisieren bestimmte Charakteristika der Stadt Cali. Ich bin total begeistert, denn ich liebe Katzen über alles. Wenn ich irgendetwas an Deutschland vermisse, ist es definitiv unser Kater Rosi. Ansonsten spüre ich nach wie vor nicht einen Hauch von Heimweh. Aber ich denke, das ist ein gutes Zeichen, denn das heißt wohl, dass es mir hier ziemlich gut geht. ;-)

Als wir nach Hause fahren, weht der Wind der lauen Sommernacht zum Fenster hinein. Er riecht angenehm salzig nach Kartoffeln und Fleisch, das in den Garkuechen gegrillt wird. Es ist ein Geruch nach Genuss, den ich bisher an keinem anderen Ort auf der Welt gerochen habe. Und für mich ist es auch ein Geruch nach Freiheit. Ich werde ihn vermissen.





26. Juli:

Heute sehe ich die Stadt das erste Mal so richtig im Hellen. Irgendwie wirkt sie weniger staubig als Quito, ordentlicher und kolonialistischer (wenn man vom centro histórico absieht). Auch der Verkehr ist bis auf das Meer von Mofas, die fahren wie sie wollen, weniger chaotisch - vermutlich weil sich weniger Leute ein Auto leisten können, da  Benzin fast so teuer ist wie bei uns in Deutschland. Ähnlich wie in Quito zieren Cali eine Vielfalt an blühenden, riesigen alten Bäumen und Sträuchern. Jedoch ist die Vegetation weit tropischer - insbesondere die vielen Arten von Helikonien gefallen mir sehr und ich muss bei den reichen Blüten häufig an Mama denken, die sich dafür sicher begeistern würde.
Wir spazieren durch das Zentrum der Stadt und machen einen Abstecher ins Goldmuseum, in dem ich die Herkunft des schrecklichen Trends der Ohrlochdehnung entdecke ;-) Für die Einheimischen scheine ich dank meiner blonden Haare und weißen Haut eine wahre Attraktion zu sein, Gott sei Dank starren mich die meisten Leute aber einfach nur an und trauen sich nicht, Fotos mit mir zu machen so wie die Inder.
Dank der Mittagshitze sind wir nach zwei Stunden alle komplett geschafft und trinken daher einen Eiskaffee in einer Mall. Dort entdecke ich die tatsächliche Gefahr Kolumbiens für Frauen: Es ist das Italien 2.0! Gleich im ersten Laden, den ich betrete, bleibe ich hängen und kaufe drei (!!!) neue Kleider. Habe ich schonmal erwähnt, dass ich mit einem Rucksack reise? ;-)
Eines der Kleider kann ich am gleichen Abend noch zur Schau stellen, denn wir haben Karten für das Salsa-Spektakel "Delirio" - die wohl beeindruckendste und längste Tanzshow, die ich je gesehen habe. Kein Wunder, schließlich ist Cali die Hauptstadt des Salsa! Leider dürfen keine Fotos gemacht werden, weswegen ich meine Kamera zu Hause lasse, aber Ana hat zum Glück ihr Handy dabei. Um halb drei fallen wir alle völlig geschafft und noch mit Latino-Tanzrhythmen in den Beinen in unsere Betten.

Mein neues Zuhause in Cali


Ursprung der heutigen Ohrschmuck-Mode

Maschine, mit der der Saft des Zuckerrohrs gewonnen wird












 
27. Juli

Den heutigen Tag gehen wir nach unserer fast schlaflosen Nacht geruhsam an. Nach einem ausgiebigen Frühstück mit Arepas und Zimtschnecken fahren wir mit dem Auto in die Berge. Ich glaube, ich habe selten eine so bunte Landschaft gesehen. Die rote Erde der Montañas ist von grünen und glben Sträuchern und Bäumen besetzt, aus der Ferne betrachtet verschwimmt alles zu einem fröhlichen Flickenteppich. Auch das Dorf, durch das wir bald fahren, passt perfekt ins Bild: Infolge eines Projekts, das die armen Wohngegenden in und um Cali aufwerten soll, werden alle Gebäude in verschiedensten Farben angemalt (s. Foto). Ich lasse das Fenster hinunter. Die angenehm frische Bergluft verwuschelt meine Haare und ich fühle mich ein klein wenig wacher. Trotzdem rede ich kaum. Es ist mir schon fast peinlich, aber aus irgendwelchen Gründen habe ich ier fast nie das Bedürfnis zu sprechen. Genauso geht es mir im Übrigen auch mit dem Schreiben: Eigentlich schreibe oder rede ich nur, wenn ich glaube, auch etwas zu sagen zu haben. Denn warum sollte ich auch mitteilen, was sowieso offensichtlich ist?
Mittags essen wir wie fast jeden Tag in Cali im Haus von Anas Oma. Nach dem leckeren kolumbianischen Mittagessen, das uns die Haushälterin Martha kocht, legen wir uns ein bisschen hin und leider (oder Gott sei  Dank!) weckt Ana mich erst um halb sechs wieder, als ich einigermaßen ausgeschlafen bin.
Wir fahren zum Olympiastadion und laufen über den Plaza de Banderas - den Platz der Flaggen, auf dem viele junge Familien in der Abenddämmerung selbstgebastelte Drachen steigen lasen. Besonders gut ggefällt mir ein Exemplar aus mehreren bunt gemusterten Regenschirmen.
Vor dem Stadion soll auch die Stadtrundfahrt im Doppeldeckerbus beginnen, die Ana und ihre Eltern extra schon vor Tagen gebucht haben. Leider ist uns aber unklar, wo genau wir in den Bus steigen sollen, weshalb Ana mindestens zwei Telefonate mit dem Veranstalter  führt, aus denen wir nicht hundertprozentig schlau werden. Nach zwanzig Minuten Warterei wird Ana zunehmend ungeduldig und ruft noch mal bei der zuständigen Mitarbeiterin an, woraufhin sich herausstellt, dass wir doch an der falschen Stelle stehen. Doch auch an der korrekten "Haltestelle" wartn wir vergeblich. Ich wweiß nicht, wie häufig Ana und ihr Papa wütend bei diesem Busunternehmen angerufen haben. Jedenfalls werde ch nie vergessen, wie süß das ist, wenn Ana sich wirklich aufregt. Wahrscheinlich sind viele Südamerikaner schon irgendwie emotionalr als die meisten Europäer. Ich dagegen muss nur darüber schmunzeln, dass Ana sich so typisch deutsch über die  Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit muckiert, während ich mich inzwischen an die hiesigen Verhältnisse schon so gut wie gewöhnt habe. ;-)
Die Stadtrundfahrt selbst ist sehr abenteuerlich, da wir uns ständig ducken müssen, um keine Äste ins Gesicht geschleudert zu bekommen. Es läuft die ganze Zeit typische música valluna - Musik aus dem Valle de Cauca, in dem Cali liegt. Besonders über Cali und seine schönen Frauen gibt es hier besonders viele Lieder. Ich versuche mir eine Stadtrundfahrt durch Hannover vorzustellen, auf der lautstark Lobeshymnen auf die Stadt und die Hannoveraner im Radio gespielt werden. Ich scheitere kläglich.
Da wir fast bis elf in besagtem Bus unterwegs sind, essen wir zum Abendbrot Maicitos - mit Käse überbackenen Mais - im typisch kolumbianischen Fastfood-Restaurant Mario Bross (deutsch: Mario Luigi), in dem ich unvermittelt an meine Kindheitstage mit dem Gameboy meines Großcousins und dem Raclette-Esse an Silvester zurückdenken muss. Ja, ich fühle mich in bei Anas Familie wie zu Hause und bin wirklich traurig, dass die Hälfte meiner Zeit in Kolumbien schon vorbei ist. atsächlich ist das größte Risiko in Kolumbien wohl wirklich, nicht mehr aus diesem wundervollen Land weg zu wollen, womit auch der kolumbianische Tourismusverband wirbt: El riesgo es que te quieras quedar!




Chipichape!





im Zuckerrohr-Museum




















eje cafetero





nach der Wildwasserbahn...









Genifer und ich

Wenn wir früher versuchen, zu uns selbst zu finden, haben wir weniger Zeit, uns zu verlieren.

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