Sonntag, 18. August 2013

„Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein.“ - Simone de Beauvoir


Wieder zu Hause in Quito habe ich erstmal Einiges an Schlaf nachzuholen. Und an Verabredungen. Inzwischen läuft das mit dem Kennenlernen von Einheimischen nämlich richtig gut. Eines der verrücktesten Dinge, die ich wohl je getan habe, ist mein "Blind-Date" mit dem Sohn der Frau, die ich bei meiner Ankunft in Quito im Flughafen kennengelernt habe. Leonel hat mich am Tag, an dem ich nach Kolumbien geflogen habe,  unbekannterweise bei WhatsApp angeschrieben, woraufhin wir ein bisschen gechattet und schließlich beschlossen haben, uns zu treffen. Ich hätte mich sicher nicht mit einem fremden Mann getroffen, wenn meine Intuition nicht damit einverstanden gewesen wäre, keine Sorge! ;-)
Ich warte also am Freitag, dem 2. August, um 14 Uhr auf eine Person, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, und von der ich lediglich weiß, dass sie 1,86m groß ist und eine Baseball-Cap trägt, 28 Jahre alt, Ingenieur ist und in Spanien lebt. Na gut, ein kleines bisschen mehr weiß ich schon, aber ein Foto habe ich bisher noch nicht gesehen. Trotzdem verstehen Leonel und ich uns auf Anhieb gut. Wir gehen zusammen Crêpes essen und ich freue mich, zur Abwechslung mal wieder mit jemandem zu sprechen, der sowohl Europa als auch Südamerika so ziemlich vorurteilfrei begegnet. Es ist auch interessant (und wohl beruhigend für alle besorgten Verwandten und Freunde zu Hause ;-) ) zu hören, wie sehr sich Ecuador - insbesondere Quito - innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte verändert hat. Vor nicht allzu langer Zeit konnte man nämlich nicht so sicher durch das Centro Histórico spazieren, wie wir es gerade tun. Natürlich gibt es auch heute noch Diebe (ladrones) und Co., allerdings ist es wohl kaum schlimmer als in anderen Großstädten auf dieser Welt. So gesehen sind viele Gerüchte, die in Deutschland bezüglich der Kriminalität in Südamerika verbreitet werden, wohl Geschichte. Ich denke, der Nachmittag mit Leonel könnte der Anfang einer guten, langjährigen Freundschaft sein. Zumindest habe ich jetzt wieder mal einen Anlass nach Madrid zu fahren. :-)

Aber es kommt noch besser dieses Wochenende! Am Samstag bin ich nämlich wieder zum Krebse Essen und zur Abschiedsfeier bei der Familia Machado eingeladen. Ich habe das Gefühl, inzwischen so gut wie die ganze Familie zu kennen, wobei die bestimmt über dreißig Verwandten, die ich bisher getroffen habe, wohl nur ein Bruchteil sind. Kein Wunder - allein Frau Pahl hat fünf Brüder und eine Schwester! Nach dem gemeinsamen Kochen und Essen - und diesmal viel weniger Flecken auf der Kleidung als nach dem ersten Mal - gehen Michaela und ich mit der Schwägerin von Frau Pahl, ihrer Tochter und ihren Enkelkindern Schlittschuhlaufen. Ja, ihr habt euch nicht verlesen! Es gibt tatsächlich  einen kleinen "Eis-Palast" (so nennt er sich zumindest in Spanisch) in einer Mall, an der ich tagtäglich mit meinem Paquisha-Bus vorbeigurke. So kommt es also, dass ich der zehnjährigen Valentina, die so niedlich ist, dass ich sie am liebsten selbst zur Schwester hätte, in Ecuador Schlittschuhlaufen beibringe und einen knuffigen neuen "novio" finde - den zweijährigen Juan Sebastián, der sogar schon seine eigene Facebook-Seite hat (s. Fotos).
Als wir abends wieder nach Hause zur Familia Machado kommen, ist die Stimmung ausgelassen. Die ganze Familie singt und tanzt und steckt mich mit der Feierlaune schnell an. Alle Möbelstücke werden so weit wie möglich beiseite geschoben und die ecuadorianischen Schlager laut aufgedreht. Frau Pahls Brüder bringen mir die typischen Tänze bei und alle sind begeistert davon, wie schnell ich das alles lerne. Zu fortgeschrittener Stunde werden patriotische Gedichte über Quito und Ecuador aufgesagt, wobei "aufsagen" definitiv nicht die Art und Weise ausdrücken kann, in der Frau Pahl und ihre Brüder die Poesie vortragen. Vielmehr könnten alle direkt beim Theater anfangen, so mitreißend und inbrünstig sprechen und gestikulieren sie. Ich bin zutiefst beeindruckt und unwahrscheinlich froh, in dieser Familie gelandet zu sein. Auch wenn es im Grunde ganz anders ist, als bei mir zu Hause, glaube ich, dass ich mich auf Dauer durchaus sehr wohl fühlen würde hier. Ich wünschte, ich könnte noch länger als eine Woche in Quito bleiben, da ich unwahrscheinlich gerne noch einmal wieder kommen würde. Oder öfter. Jedenfalls werde ich von allen herzlich dazu eingeladen und fühle mich so ähnlich wie in Bezug auf Anas Familie: Auch, wenn ich diese Menschen kaum kenne, weiß ich, dass sie wie meine ecuadorianische Familie für mich sind. In diesem Sinne ¡GRACIAS POR TODO!

Am Sonntagmorgen wache ich nach der langen Feier entsprechend verkatert auf und würde am liebsten den ganzen Tag lang im Bett liegen bleiben. Da es Alex ähnlich geht, beschließen wir den Tag geruhsam anzugehen und laufen mit Sebastián und Emilio zum Casa de la Cultura, um ins Landeskundemuseum zu gehen. Im Grunde interessiert mich das alles sehr, aber ich bin so müde, dass ich nicht viel mehr von den Infotafeln mitnehme, als dass da weiße Schrift auf blauem Grund steht. Dafür gefallen mir die Knete-Modelle von indigenen Dörfern in verschiedenen Regionen und Epochen. Wie immer, wenn ich müde bin, bekomme ich bald einen Bärenhunger. Da die Brüder und Alex Lust auf Fastfood haben, gehen wir zu KFC und nehmen uns unser Essen mit in den benachbarten Parque El Ejido, indem es von Artisten und Künstlern nur so wimmelt. An den Wegen stellen Maler ihre Bilder aus, es gibt einen kleinen Markt mit Hängematten, Gringo- und traditioneller Kleidung und Jongleure. Aus irgendwelchen Gründen fesselt mich einer von letzteren besonders und auch sein Blick scheint häufiger mal an mir hängen zu bleiben. Ich weiß nicht genau, wie es passiert, jedenfalls tragen mich meine Beine irgendwann einfach zu ihm hin. Wir begrüßen uns und er fragt mich, aus welchem Land ich komme. Dann versucht er auf deutsch "Wie geht's?" zu sagen, was ich leider erst im dritten Anlauf verstehe. Wir reden ein bisschen und ich finde heraus, dass er aus Chile kommt und ein Jahr lang mit dem Rucksack rumreist. Wenig später lerne ich auch Mauricios Freunde kennen, die alle irgendwie wie Hippies aussehen, aber mich wie magisch anziehen. Sie reisen alle komplett ohne Geld, schlafen kostenlos bei Leuten, die sie bei Couchsurfing kennenlernen, und verdienen ihre Fahrkarten und ihr Essen mit Musik, selbstgeknüpften Armbändern, Artistik, etc. Bis die Sonne untergeht und es zu kalt wird, sitze ich mit ihnen zusammen, probiere mich ein bisschen im Jonglieren mit Keulen und versuche das chilenische Spanisch zu verstehen, das irgendwie sehr niedlich klingt. Bevor ich nach Hause gehe, schreibe ich Mauricio noch meine Nummer auf einen Zettel, da er sein iPhone während seiner Reise verkauft hat, und er verspricht, mich später anzurufen. Ich weiß schon jetzt, dass ich definitiv mehr Zeit mit ihm und seinen Freunden verbringen möchte. Sie faszinieren mich einfach. Anders kann ich das nicht ausdrücken.
Sowieso scheint dieser Sonntag ein Tag der schicksalhaften Begegnungen zu sein: Im gleichen Park lerne ich nämlich auch den Salsa-Lehrer Luis kennen, der sechs Wochen in der Schweiz Deutsch gelernt hat und schonmal in Hannover war, weil eine gute Freundin aus Hildesheim dort Medizin studiert. Letztere hat er kennengelernt, als sie ebenfalls im Pablo Arturo Suarez ein Praktikum gemacht hat. Wir können es beide kaum glauben. ¡Que coincidencia! schon wieder mal... Auch mit Luis tausche ich Nummern aus.

Tatsächlich klingelt am gleichen Abend auch noch mein Handy und ich verabrede mich mit Mauricio und seinen Freunden für den nächsten Tag um 14 Uhr im Parque El Ejido. Als ich abends ins Bett gehe, dreht Juan laut den Song "Feeling Good" von Michael Bublé auf, denn er hatte heute ein offensichtlich erfolgreiches Date. Der Song passt wie die Faust aufs Auge, denn genauso fühle ich mich: einfach nur gut.

Als ich am Montag um punkt zwei am Treffpunkt ankomme, beginnen auf einmal die Zweifel an mir zu nagen. Passe ich da überhaupt hin? Ich sehe irgendwie so anders aus! Viel weniger wie eine Aussteigerin, die Armbändchen knüpft und Panflöte spielt. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich geradezu spießig!! Nach zehn Minuten steigen mir sogar Tränen in die Augen. Was, wenn ich mich mal wieder verhört habe und er "doce" gesagt hat und nicht "dos"? Das wäre mal wieder typisch! Außerdem kenne ich diese Leute doch gar nicht! Was wenn die ganzen Hippie-Clichees bezüglich Drogen usw. wirklich zutreffen? Ich zwinge mich, mich zu beruhigen, denn schließlich hasse ich Vorurteile wie die Pest. Eigentlich ist es doch völlig egal, wie man aussieht, denke ich. Wichtig ist nur, wo man sich wohlfühlt. 
Und kurz darauf tauchen auch schon drei bekannte Gesichter auf - Mauricio und Susana aus Chile und Felipe aus Brasilien. Wir warten noch eine Dreiviertelstunde auf Jorge, einen weiteren Chilenen, der aber nicht kommt, dann ziehen wir los ins Centro Histórico. Felipe hat ein Einrad dabei und unterwegs treffen wir ständig auf irgendwelche Leute, die die drei irgendwoher kennen. An einem Musikgeschaeft machen wir Halt und probieren das Mini-Akkordeon aus dem Schaufenster aus, und obwohl niemand von uns auch nur ein bisschen Ahnung vom Akkordeon Spielen hat, beschließen die drei, es demnächst zu kaufen. Angekommen in der Altstadt gehen wir in den Circo Social, der passenderweise an der Straßenkreuzung der Straßen Chile und Benalcázar liegt. Hierbei handelt es sich um ein landesweites Projekt, dass Jugendlichen aus der Armut helfen soll, indem man ihnen Artistik beibringt ( http://www.vicepresidencia.gob.ec/miembros-del-circo-social-ecuador-cumplen-jornadas-de-capacitacion-en-quito/ ). Wir sehen den jungen Leuten also eine Weile beim Training zu und üben dann selbst ein bisschen Jonglieren und Einrad Fahren. Als wir Hunger bekommen, gehen wir eine Empanada Chilena und Brot kaufen und laufen dann fast bis zum Panecillo - dem Berg mit der Engelsstatue in der Altstadt - hinauf, weil wir vergeblich ein Hostel suchen, in dem fast alle chilenischen Freunde wohnen. Als es dunkel wird, kaufen wir ein paar Becher Morocho - ein süßes heißes Getränk, dass ein bisschen so schmeckt wie Milchreis, nur flüssiger - und setzen uns gemeinsam in einen alten Hauseingang. Diesen Moment werde ich wohl nie vergessen, denn ich fühle mich einfach nur so wohl mit meinen drei neuen Freunden, die irgendwie so anders sind als ich und doch so ähnlich. Ich habe mich selten so gut und so natürlich gefühlt.. Ich sehe dabei zu, wie sich der leicht bewölkt Himmel von rosa über violett nach nachtblau färbt und trinke den letzten Rest Morocho aus dem Becher, den Mauricio sich mit mir geteilt hat. Dann laufen wir zusammen durch La Ronda und finden dort in der Nähe endlich das so lange gesuchte Hostel. Das Zimmer der Freunde entspricht tatsächlich allen Clichees: Es riecht nach Rauch und Marihuana und bis auf zwei Matratzen, Rucksäcke, ein zerschlissenes Liederbuch auf dem Boden und ein rostiges altes Fahrrad, das an der Wand lehnt, ist es so gut wie leer. Wir lassen uns alle auf dem Boden nieder, es wird ein Joint rumgereicht, den ich dankend ablehne, und einer der beiden Hippies mit Dreadlocks bis zum Po trommelt ohne Unterlass auf seiner neuen Holztrommel. Leider kann ich der Konversation kaum noch folgen, denn zum Einen bin ich total erschöpft und zum Anderen geht es hauptsächlich um Dinge, über die ich mich in der Regel nicht mal auf Deutsch unterhalte. Trotzdem bin ich froh, dabei zu sein. Ich frage mich, ob ich auch so reisen könnte. Ein ganzes Jahr lang ohne alles. Oder sogar länger... Vielleicht werde ich es eines Tages ausprobieren...












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