21. August
Eigentlich sollte gerade einer dieser magischen Momente
sein. Wir laufen Jorge, einem Einwohner eines indigenen Dorfes hinterher, immer
weiter und weiter ins grüne Geäst des Dschungels. Es ist eine aufregende
Wanderung auf einem Pfad, der erst mit Machete freigelegt werden muss, um
überhaupt passierbar zu sein. Wir klettern über Felsen und halten uns dabei an
Wurzeln fest, hautnah sehen wir eine giftige Korallenschlange im Unterholz.
Dank der feuchten Hitze klebt meine weiße Baumwollbluse an meinem Oberkörper. Eine
unglaubliche Vielfalt an Schmetterlingen und Helikonien ziert diesen
urnatürlichen Ort. Marvin scheint die Wanderung sehr zu genießen, was mich
freut. Doch ich möchte einfach nur weg.
Was ist nur mit mir los? Ich bin so in mich gekehrt wie selten.
Fühle mich erdrückt, gefesselt, obwohl ich doch so frei bin wie nie zuvor! Wie
fast nie zuvor.
Ich glaube, mir fehlt das Alleinsein. Es mag paradox
klingen, doch ich vermisse die Einsamkeit.
Denn Einsamkeit ist für mich nichts Negatives. Einsamkeit
ist wie Zweisamkeit, nur eben allein. Ich möchte endlich mal wieder ungestört
philosophieren, reflektieren, oder überhaupt erst einmal wahrnehmen!
Wenn ich dies momentan versuche, fühle ich mich, als würde Marvin mir zuhören,
meine Gedanken lesen. Natürlich ist ihm das nur bis zu einem geringen Maße
möglich und doch fühle ich mich in meiner Privatsphäre gestört.
Ich weiß, dass ich mich anders verhalten würde, würde ich
denken wie in einsamen Zeiten. Obwohl Gedankenfreiheit ein Grundrecht eines
jeden Menschen ist, kann ich sie nicht ausleben, wenn andere kontinuierlich anwesend
sind. Warum nur?
Eines ist mir klar: Durch mein verändertes Verhalten fühle
ich mich nicht wohl. Ich bin geradezu unkontrolliert patzig und ungerecht,
obwohl ich weiß, dass es objektiv gesehen keinen Anlass dazu gäbe.
Auch meine Wahrnehmung verändert sich durch meine
unterdrückte Gedankenwelt. Ich kann mich weniger auf fremde Menschen einlassen,
denn da ist immer noch ein Begleiter, der das kritisch betrachten könnte.
Dazu kommunizieren Marvin und ich natürlich ständig – auch,
wenn wir gerade nicht reden. Es lenkt mich unwahrscheinlich von der Außenwelt
ab, welche nur noch wie ein Film an mir vorbeizuziehen scheint.
Meine eingeschränkte, verzerrte Wahrnehmung spiegelt sich
sogar in meinen Texten wieder, in denen ich nun häufig davon schreibe, was WIR
denken, finden und fühlen und nicht, was ICH unabhängig davon meine. Und diese
pausenlose Wir-Wahrnehmung ist offenbar das, was mich auf Dauer enorm
unzufrieden macht.
Vielleicht habe ich früher einfach nie meine
Gedankenfreiheit ausgelebt und das erst jetzt durch meine Zeit in Quito gelernt.
Versuchen wir im Alltag nicht ständig, uns in bestimmte Rollenbilder
einzupassen – die Vorzeigetochter, die Einser-Schülerin, die perfekte
Partnerin? Ist es vielleicht sogar notwendig, sich im Rahmen dieser bestimmte
Gedankengänge zu untersagen – oder gar nicht erst zuzulassen?
Möglicherweise hänge ich nun einfach nur im Spagat zwischen
der Anpassung an das Rollenbild „perfekte Partnerin“ und der Freiheit, in der
ich mich in den letzten Wochen entfalten konnte...
Blöderweise helfen mir all diese Gedanken dennoch nicht
weiter. Denn im Endeffekt sehne ich mich immer nur nach meiner vergangenen Zeit
in Quito, die ich nicht zurückholen kann...
Das indigene Dorf Sinchipura, in dem wir fast drei Tage
wohnen, ist wie ein Paradies auf Erden. Es liegt direkt an einem rauschenden
Fluss mitten im Urwald und ist nur über eine einzige Brücke erreichbar. Hühner, Küken und Hunde laufen frei herum, es riecht den ganzen Tag über nach Lagerfeuer. Jede der etwa 10 Familien hier besitzt ein eigenes Holzhaus, die Gärten voller Kakao-, Yuca- und Bananenpflanzen erstrecken sich bis ins scheinbar Unendliche in den Wald hinein.
Der
bereits erwähnte Jorge ist die nächsten Tage sowas wie unser Reiseleiter, da er
neben Quechua im Gegensatz zu vielen anderen fließend Spanisch spricht. Er ist
Bildhauer und zeigt uns nach unserer Dschungelwanderung seinen Arbeitsplatz, ein kleines Holzatelier, in dem wir gemeinsam Kreisel aus der Schale einer Dschungelfrucht und einem dunklen
Holzsorte schnitzen. Es tut gut, sich mal wieder kreativ ausleben zu können,
deshalb verziere ich gleich noch einen zweiten Kreisel, während Marvin mit den
Männern der Dorfgemeinschaft Fußball spielt. Als es in der Holzhütte dunkler
wird, weil draußen die Dämmerung hereinbricht, setze ich mich in eine
Hängematte, sehe den anderen beim Spielen zu und verliere mich in einer
gedankenlosen Starre, die erst wieder aufgehoben wird, als wir mit Jorge auf
der Veranda des Gemeinschaftshauses zum Abendessen Platz nehmen. Wir tauschen
uns über die Sozialsysteme Ecuadors und Deutschlands aus. Als wir Jorge
erzählen, wie hoch der Hartz-IV-Satz in Deutschland ist und dass es sogar noch
eine Sozialwohnung gratis dazu gibt, kann er es kaum glauben. Noch
fassungsloser wird er, als wir erwähnen, wie viele Menschen in Deutschland
einfach aus Bequemlichkeit dieses Geld kassieren und nicht arbeiten gehen. Denn
in Ecuador gibt es zwar ein Arbeitslosengeld, dieses beträgt allerdings nur ca.
50 Dollar im Monat und wird allenfalls von Menschen mit absoluter
Arbeitsunfähigkeit bezogen. Ansonsten haben hier alle eine Arbeit, egal wie
klein und unbedeutend diese auch sein mag.
Als wir gegen neun zurück in unsere Schlafhütte gehen, ist
der schwarze Himmel besetzt von unendlich vielen funkelnden Sternen und der
Vollmond scheint silbern in unsere müden Gesichter. Trotz meiner Unzulänglichkeiten
schlafe ich heute recht zufrieden unter meinem Moskitonetz ein, denn mir wird mal wieder bewusst, wie
nichtig meine Probleme im Gegensatz zu anderen Missständen auf dieser Welt
sind.
Die nächsten Tage leben wir gemütlich dahin beim Baden in
Lagunen, einer Flusswanderung und typischen indigenen Aktivitäten wie der
Chicha-Herstellung (ein ziemlich markantes Getränk aus vergorener Yuca) und
Rohrstock-Schießen. Letzteres war ursprünglich eine Jagdtechnik, mit der man
angeblich bis zu 80 Meter weit schießen konnte. Wir bekommen es allerdings
nicht einmal wirklich hin, den Stiel der Helikonie zu treffen, die Jorge als Zielscheibe
ca. 10 Meter vor uns in die Erde gesteckt hat...
Mein persönliches Highlight aber ist die Motorradfahrt zu
dritt zur Laguna Azul über die Schotterwege und Brücken der indigenen Dörfer.
Es ist ein wundervolles Gefühl, wie der Tropenwind durch meine Haare kämmt,
während wir hucklige Hügel rauf und runter sausen. Leider vergesse ich dabei
völlig, dass sich unter meinem rechten Bein das Auspuffrohr befindet, an dem
ich mir beim Absteigen erst mal eine schöne Brandblase zuziehe... pero valió la pena!
die Korallenschlange |
Jorges Atelier |
Rohrstock-Schießen |
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