Samstag, 9. November 2013

Sinchipura


21. August

Eigentlich sollte gerade einer dieser magischen Momente sein. Wir laufen Jorge, einem Einwohner eines indigenen Dorfes hinterher, immer weiter und weiter ins grüne Geäst des Dschungels. Es ist eine aufregende Wanderung auf einem Pfad, der erst mit Machete freigelegt werden muss, um überhaupt passierbar zu sein. Wir klettern über Felsen und halten uns dabei an Wurzeln fest, hautnah sehen wir eine giftige Korallenschlange im Unterholz. Dank der feuchten Hitze klebt meine weiße Baumwollbluse an meinem Oberkörper. Eine unglaubliche Vielfalt an Schmetterlingen und Helikonien ziert diesen urnatürlichen Ort. Marvin scheint die Wanderung sehr zu genießen, was mich freut. Doch ich möchte einfach nur weg.
Was ist nur mit mir los? Ich bin so in mich gekehrt wie selten. Fühle mich erdrückt, gefesselt, obwohl ich doch so frei bin wie nie zuvor! Wie fast nie zuvor.
Ich glaube, mir fehlt das Alleinsein. Es mag paradox klingen, doch ich vermisse die Einsamkeit.
Denn Einsamkeit ist für mich nichts Negatives. Einsamkeit ist wie Zweisamkeit, nur eben allein. Ich möchte endlich mal wieder ungestört philosophieren, reflektieren, oder überhaupt erst einmal wahrnehmen!
Wenn ich dies momentan versuche, fühle ich mich, als würde Marvin mir zuhören, meine Gedanken lesen. Natürlich ist ihm das nur bis zu einem geringen Maße möglich und doch fühle ich mich in meiner Privatsphäre gestört.
Ich weiß, dass ich mich anders verhalten würde, würde ich denken wie in einsamen Zeiten. Obwohl Gedankenfreiheit ein Grundrecht eines jeden Menschen ist, kann ich sie nicht ausleben, wenn andere kontinuierlich anwesend sind. Warum nur?
Eines ist mir klar: Durch mein verändertes Verhalten fühle ich mich nicht wohl. Ich bin geradezu unkontrolliert patzig und ungerecht, obwohl ich weiß, dass es objektiv gesehen keinen Anlass dazu gäbe.
Auch meine Wahrnehmung verändert sich durch meine unterdrückte Gedankenwelt. Ich kann mich weniger auf fremde Menschen einlassen, denn da ist immer noch ein Begleiter, der das kritisch betrachten könnte.
Dazu kommunizieren Marvin und ich natürlich ständig – auch, wenn wir gerade nicht reden. Es lenkt mich unwahrscheinlich von der Außenwelt ab, welche nur noch wie ein Film an mir vorbeizuziehen scheint.
Meine eingeschränkte, verzerrte Wahrnehmung spiegelt sich sogar in meinen Texten wieder, in denen ich nun häufig davon schreibe, was WIR denken, finden und fühlen und nicht, was ICH unabhängig davon meine. Und diese pausenlose Wir-Wahrnehmung ist offenbar das, was mich auf Dauer enorm unzufrieden macht.

Vielleicht habe ich früher einfach nie meine Gedankenfreiheit ausgelebt und das erst jetzt durch meine Zeit in Quito gelernt. Versuchen wir im Alltag nicht ständig, uns in bestimmte Rollenbilder einzupassen – die Vorzeigetochter, die Einser-Schülerin, die perfekte Partnerin? Ist es vielleicht sogar notwendig, sich im Rahmen dieser bestimmte Gedankengänge zu untersagen – oder gar nicht erst zuzulassen?
Möglicherweise hänge ich nun einfach nur im Spagat zwischen der Anpassung an das Rollenbild „perfekte Partnerin“ und der Freiheit, in der ich mich in den letzten Wochen entfalten konnte...

Blöderweise helfen mir all diese Gedanken dennoch nicht weiter. Denn im Endeffekt sehne ich mich immer nur nach meiner vergangenen Zeit in Quito, die ich nicht zurückholen kann...


Das indigene Dorf Sinchipura, in dem wir fast drei Tage wohnen, ist wie ein Paradies auf Erden. Es liegt direkt an einem rauschenden Fluss mitten im Urwald und ist nur über eine einzige Brücke erreichbar. Hühner, Küken und Hunde laufen frei herum, es riecht den ganzen Tag über nach Lagerfeuer. Jede der etwa 10 Familien hier besitzt ein eigenes Holzhaus, die Gärten voller Kakao-, Yuca- und Bananenpflanzen erstrecken sich bis ins scheinbar Unendliche in den Wald hinein. 
Der bereits erwähnte Jorge ist die nächsten Tage sowas wie unser Reiseleiter, da er neben Quechua im Gegensatz zu vielen anderen fließend Spanisch spricht. Er ist Bildhauer und zeigt uns nach unserer Dschungelwanderung seinen Arbeitsplatz, ein kleines Holzatelier, in dem wir gemeinsam Kreisel aus der Schale einer Dschungelfrucht und einem dunklen Holzsorte schnitzen. Es tut gut, sich mal wieder kreativ ausleben zu können, deshalb verziere ich gleich noch einen zweiten Kreisel, während Marvin mit den Männern der Dorfgemeinschaft Fußball spielt. Als es in der Holzhütte dunkler wird, weil draußen die Dämmerung hereinbricht, setze ich mich in eine Hängematte, sehe den anderen beim Spielen zu und verliere mich in einer gedankenlosen Starre, die erst wieder aufgehoben wird, als wir mit Jorge auf der Veranda des Gemeinschaftshauses zum Abendessen Platz nehmen. Wir tauschen uns über die Sozialsysteme Ecuadors und Deutschlands aus. Als wir Jorge erzählen, wie hoch der Hartz-IV-Satz in Deutschland ist und dass es sogar noch eine Sozialwohnung gratis dazu gibt, kann er es kaum glauben. Noch fassungsloser wird er, als wir erwähnen, wie viele Menschen in Deutschland einfach aus Bequemlichkeit dieses Geld kassieren und nicht arbeiten gehen. Denn in Ecuador gibt es zwar ein Arbeitslosengeld, dieses beträgt allerdings nur ca. 50 Dollar im Monat und wird allenfalls von Menschen mit absoluter Arbeitsunfähigkeit bezogen. Ansonsten haben hier alle eine Arbeit, egal wie klein und unbedeutend diese auch sein mag.

Als wir gegen neun zurück in unsere Schlafhütte gehen, ist der schwarze Himmel besetzt von unendlich vielen funkelnden Sternen und der Vollmond scheint silbern in unsere müden Gesichter. Trotz meiner Unzulänglichkeiten schlafe ich heute recht zufrieden unter meinem Moskitonetz ein, denn mir wird mal wieder bewusst, wie nichtig meine Probleme im Gegensatz zu anderen Missständen auf dieser Welt sind.

Die nächsten Tage leben wir gemütlich dahin beim Baden in Lagunen, einer Flusswanderung und typischen indigenen Aktivitäten wie der Chicha-Herstellung (ein ziemlich markantes Getränk aus vergorener Yuca) und Rohrstock-Schießen. Letzteres war ursprünglich eine Jagdtechnik, mit der man angeblich bis zu 80 Meter weit schießen konnte. Wir bekommen es allerdings nicht einmal wirklich hin, den Stiel der Helikonie zu treffen, die Jorge als Zielscheibe ca. 10 Meter vor uns in die Erde gesteckt hat... 
Mein persönliches Highlight aber ist die Motorradfahrt zu dritt zur Laguna Azul über die Schotterwege und Brücken der indigenen Dörfer. Es ist ein wundervolles Gefühl, wie der Tropenwind durch meine Haare kämmt, während wir hucklige Hügel rauf und runter sausen. Leider vergesse ich dabei völlig, dass sich unter meinem rechten Bein das Auspuffrohr befindet, an dem ich mir beim Absteigen erst mal eine schöne Brandblase zuziehe... pero valió la pena!









die Korallenschlange






Jorges Atelier









Rohrstock-Schießen




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